Die Lebenskünstlerin (German Edition)
und rutschig. Dann passiert es. Trotz salbungsvoller Worte und himmlischen Beistand gleitet der Diener Gottes plötzlich ab und droht schwankend mit ins Grab zu fallen. Alleine vermag er sich nicht mehr zu halten. Die zwei Schirmträger fassen ihn beherzt am Gewand und am Arm, damit er das Gleichgewicht wieder erlangen kann.
Doch sie taumeln alle drei, es gibt ein wirres Hin und Her, aufgeregte Stimmen. Es ist richtig spannend. Umständlich können sie sich auf die naheliegenden Bretter retten, von dort aus beendet der sichtlich erschrockene Pfarrer zügig seine Grabrede. Sein helles durchnässtes Gewand ist voller Schmutz und braunem Schlamm, die herbeieilenden Helfer in ihren Anzügen sind völlig verdreckt. Natürlich sind auch die durchnässten Trauergäste schockiert und aufgeregt. Sehr kurzweilig, dieses himmlische Schauspiel.
Mit einem kraftvollen Donnern zischt ein dämonischer Sturm über unsere Köpfe hinweg. Die Schirme klappen nach hinten, der aufgeweichte Schlamm strömt flussartig um uns herum.
Die aufgeregte Menge hastet noch vor Abschluss der Zeremonie ohne göttlichen Segen zu den parkenden Autos, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Die Menschen verschwinden im sicheren Blech, starten den Motor und versuchen wild und hektisch aus der kleinen Zufahrtsstraße zu entkommen.
In Tims Auto amüsieren wir uns über diese aufregende Beerdigung. Ich sage meinen Söhnen, wie toll sie ausgesehen haben. Vor der Beerdigung.
Wir ziehen uns gegenseitig kichernd die schlammigen Schuhe aus und drehen bibbernd vor Kälte die Heizung auf.
Die Geschichte mit dem taumelnden Pfarrer, der fast noch seine Helfer mit ins Grab gerissen hätte, wird ausgiebig diskutiert. „Typisch deine Mutter“, lacht Jan, „selbst auf dem Friedhof hält sie noch alles auf Trab.“
Ja, das Unwetter hat zu ihr und ihrem Leben gepasst, es erinnert an das letzte Gericht, an das Fegefeuer oder besser an die Sintflut.
In den nächsten Tagen fühle ich mich, als sei ich von einer schweren Last befreit. Ein wuchtiger Mühlstein von den vielen, die ich noch mit mir herumtrage, hat sich aufgelöst. Tatsächlich bin ich sehr erleichtert, dass meine Mutter nun endlich gestorben ist.
Ein toter Mensch kann mir nichts mehr Übles antun. Sie liegt jetzt sicher und unwiderruflich unter der Erde. In ihrem rosafarbenen Nachthemd in Eiche rustikal. Darüber eine große Menge schlammiger Erde, massig und schwer. Dekoriert mit ein paar Kränzen und Gestecken mit langen Spruchbändern, die von Liebe und Dankbarkeit sprechen.
Schön, dass du gestorben bist. Ich hätte deinen Tod sonst sehr vermisst.
Eine heilsame Vorstellung, auch wenn es möglicherweise makaber klingt. Fassadenreiche Tradition: Über einen Toten spricht man nicht schlecht. Nie ist jemand so gut gewesen wie nach seinem Tod.
Eine ältere Fotografie der Verstorbenen stecke ich nachdenklich in einen kleinen, verzierten Holzrahmen. Den platziere ich ein paar Tage mitten auf den Tisch und schimpfe noch ein wenig mit ihr herum. Frage die Fragen, auf die es in diesem Leben sowieso keine Antworten mehr geben wird.
Tatsächlich gelingt es mir recht gut, durch das gezielte Formulieren der ungelösten Themen, den restlichen Groll aufzulösen. Schon bald stelle ich ihr Foto ein paar Stunden in die Sonne auf meinem Balkon. Der Ort ist passend gewählt, immerhin stand hier mal ein Grab, in dem ich meine Sehnsucht nach einem liebenden Konrad beerdigte.
Das Thema Mutter verschwindet recht bald aus meinem Leben, das Bild ebenso.
Was bleibt ist zwar kein Groll mehr, aber das altbekannte Gefühl einer riesigen Leere.
Das animiert meine Therapeutin dazu, mich wieder einmal daran zu erinnern, dass nun endlich Gelegenheit für die Grundsätzlichkeiten der psychischen Genesung wäre: Zeit zur inneren Einkehr und zur Konfrontation mit dem Schmerz.
Doch dieses Programm halte ich keinen Tag aus, ich suche krampfhaft nach einem neuen Betätigungsfeld. Bemühe mich um Arbeit, reihe in meiner Freizeit eine Aktivität an die andere. Verstecke mich hinter Verabredungen und Menschen, besuche Galerien, gehe gestylt ins Theater und in die Oper, sehe mir bescheuerte und überflüssige Filme im Kino an, mache Ausflüge mit meinen Freundinnen und bringe die Courage auf, alleine zum Tanzen zu gehen.
Unweit von Rodenbach befindet sich ein Tanzlokal. Hübsch aufgerüscht gehe ich nun dort gelegentlich hin. Freilich genieße ich die interessierten Blicke der umstehenden Männer, lasse mich auch
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