Die Lebenskünstlerin (German Edition)
Familie aussucht, bei der sie Fehlendes lernen kann.
Wenn das stimmt: Wie konnte meine Seele nur so dumm sein und in diese gruselige Sippe inkarnieren?
Als Kind hoffte ich, dass ich adoptiert bin, aber dies hier ist wirklich meine Familie, ob ich will oder nicht. Vielleicht war es ein Versehen seitens meiner Seele oder ein bedauerlicher Unfall im allumfassenden Universum.
Valentina schlägt mir vor, meine erwachsenen Söhne um Unterstützung zu bitten und sie wenigstens gelegentlich bei diesen Besuchen mitzunehmen. Wohl fühle ich mich dabei nicht, trotzdem setze ich ihren Vorschlag um. Tatsächlich stellen meine Kinder sofort Pläne auf, wie sie das Vorhaben in ihren Alltag integrieren. Für die Jungen ist klar, dass ihre Freundinnen niemals Kontakt zu meinem Vater haben dürfen, da dies viel zu gefährlich sei.
Außerdem ermutigt mich meine Therapeutin, Jan und Tim gegenüber deutlich auszusprechen, was in meiner Kindheit alles passiert ist. Detailgenau möchte ich das nicht. Doch nach anfänglichem Zögern ringe ich mich zu einem Gespräch mit ihnen durch.
Ich stottere verkrampft und nur andeutungsweise vor meinen Söhnen irgendwas zusammen. Doch sie sind besser informiert, als ich jemals vermutet hätte. Sehr liebevoll gehen sie auf mich ein, erinnern an die Freizeiten der Selbsthilfegruppen, zu denen ich sie schon in jungen Jahren mitgenommen habe. Dort hätten sie das erste Mal verstanden, dass ihr Vater kein gemeiner Blödmann ist, sondern seine Krankheit Alkoholismus heißt.
Und als ihre Mutter heulend aus einem dort angebotenen Meeting rannte und ihren Fragen auswich, brachten sie schon damals in Erfahrung, dass es um Inzestüberlebende geht.
Glücklicherweise fanden sie dort einfühlsame Zuhörer und Erklärungen auf ihre Fragen, die ich zu dieser Zeit noch nicht beantworten konnte.
Zwar kennen sie diese leidige Geschichte nur in groben Zügen, dennoch betonen beide, dass sie stolz auf mich seien.
Trotz allem ins Leben zu treten und nicht aufzugeben, das sei beachtlich.
Ich werfe ein, dass ich es zu nichts gebracht habe, keinen Job, keine Beziehung.
Sie widersprechen mir strikt. Sie selbst seien das beste Beispiel, dass ich es im Leben zu etwas gebracht hätte.
Ich fange an zu weinen, lasse mich von diesen prachtvollen Geschöpfen umarmen.
Zudem hätte ich noch eine schuldenfreie Eigentumswohnung und bin gesund.
Sie erinnern an Susanne aus der Freizeit mit einer ähnlichen Geschichte. Wegen ihrer Borderline-Störung ritzt sie ihre Arme auf, weil sie nicht mehr weiß, wohin mit all ihrem Schmerz.
Tim meint, der könne man kein Messerset zum Geburtstag schenken, die würde gleich an sich herumschnipseln. Wir lachen jetzt alle drei, trotz des schweren Themas.
Einen Moment lang bin ich sehr, sehr glücklich.
So, wie ich die letzte Zeit zu meinen Jobs gefahren bin, so fahre ich jetzt zu meiner Mutter und zur Therapie. Oft begleitet mich einer meiner Söhne.
Mit Valentina verarbeite ich die Gefühle, die in mir hochkommen, während ich meine Mutter besuche. Am Bett meiner Mutter überlege ich, was ich hier denn überhaupt verloren habe.
Wenn ich alleine in diesem düsteren Haus bin, rede ich mit dem stummen Körper, der dort in den dicken Kissen liegt.
Diese übermächtige Frau ist in den letzten Wochen regelrecht geschrumpft. Schätzungsweise 35 Kilo wiegt dieser ausgemergelte Leib hier noch. Ihr Gesicht ist spitz und kantig. Sie will einfach nicht sterben. Wie ungern jemand stirbt, hängt angeblich ja davon ab, was und wie viel er ungetan gelassen hat.
Seit den letzten Besuchen betrachte ich sie eingehend. Die dünnen Ärmchen lugen neben der Bettdecke hervor, da sie permanent am Tropf hängt und die Flüssigkeit über ihrem Handrücken Zugang zu ihrem schwachen Körper findet. Die Adern verlaufen unter einer dünnen Schicht Haut, manche bläulich, manche lilafarben, fast auberginefarben.
Die Augen sind seit Ewigkeiten geschlossen. Im Gesicht ist die Haut regelrecht verfärbt, fleckig, dünn. Die hohen Wangenknochen ragen in dieser liegenden Position wie zwei knochige Berge hervor. Sie geben dem Antlitz noch ein wenig Kontur. Die restlichen Gesichtszüge sind fast verschwunden, eingefallen, entstellt. So, als sei die ganze Lebenskraft aus ihr entwichen. Besser gesagt, der Lebenssaft.
Es dämmert, ich bin schon seit Stunden alleine mit ihr. Gelegentlich versorge ich sie mit dem Notwendigen, tausche den Tropf, bette sie vorsichtig um, wechsle ihre Windeln.
Was eben so zu tun
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