Die Lebenskünstlerin (German Edition)
auch?
Auf der Heimfahrt halte ich an. Kaum in der Lage, ein Auto zu steuern, beschließe ich, ein paar Schritte zu gehen.
Im Wald habe ich keine Angst, zumal die Nacht davor schützt, dass man meine Gefühle und Gedanken erraten kann. Beim strammen, völlig ungestörten Gang über mondscheinbeleuchtete Wege beruhige ich mich langsam.
Möglicherweise ist die Frage beantwortet, warum es mich immer wieder zu meiner Mutter zieht. Immerhin habe ich mit ihr reinen Tisch gemacht, wie es so schön heißt. Alles herausgelassen, was ich ihr mein restliches Leben noch nachgetragen hätte.
Längst habe ich nicht mehr auf ihre Liebe gehofft. Stattdessen entwickelte ich Mitgefühl. Nun bin ich nicht mehr das enttäuschte und verzweifelte Mädchen, welches um Liebe bettelt. Liebe ist nicht an Bedingungen geknüpft. Mich durchströmt das Gefühl, langsam aber sicher erwachsen zu werden.
In der folgenden Nacht stirbt sie endlich. Sie hat aufgehört zu atmen, nach jahrelangem Leiden. Meine Söhne und ich halten einen ganzen Tag lang Totenwache. Sie liegt nun aufgebahrt im Wohnzimmer, die Leichenstarre noch nicht gewichen. Ihr Mund steht weit offen, fast aufgerissen. Ihrem Körper sieht man den langen Kampf deutlich an. Alles wirkt erstarrt, sie wirkt sonderbar fremd.
Eiche rustikal, Rosenblüten und ein taumelnder Pfarrer
Mit dem adretten Bestattungsunternehmer wähle ich den Sarg aus. Mutter mochte den rustikalen Eichenschrank im Wohnzimmer, ihr Sarg hat nun das gleiche Holz. Decken ohne Schnörkel, die hätte sie nun wirklich übertrieben gefunden.
Rote Rosen in ihrem letzten Ruhebett. Passend dazu hole ich aus ihrem Kleiderschrank ein rosafarbenes Nachthemd, mit Rosen bedruckt.
Die Gemeindeschwester hilft mir, meine Mutter zu waschen und sie anzuziehen. Wir ziehen uns Gummihandschuhe an und legen ihr eine neue Windel um. Sie sieht entspannter aus. Oder habe ich mich an ihren Anblick gewöhnt?
Ihre Haut fühlt sich kühl an und bekommt einen glänzenden Film. Wie einbalsamiert wirkt sie. Wächsern, bleich. Immer deutlichere Konturen.
Ungestüm reiße ich die Fenster auf. Tief ziehe ich die kühle, frische Luft in meine Lungen. Mir schwirren die Sinne. Drinnen ist deutlich Mutters unvermittelte Aufgeregtheit zu spüren. Geradeso, als hätte sie jetzt erst verstanden, dass ihre Seele wieder frei ist.
Eine eiskalte Brise durchströmt den Raum und in der Ferne höre ich das Totenglöckchen. Endlich löst sie sich von ihrem Körper, ihr Kiefer schließt sich ein wenig.
Mit bewusster Achtsamkeit behandle ich diesen toten Körper. Zu solch einer Achtsamkeit war sie mir gegenüber nie fähig. Es war einfacher, das Objekt der Schande wegzusperren, mundtot zu machen, als sich dem ganzen unfassbaren Drama zu stellen. Sie hätte mit der Wahrheit nicht mehr weiterleben können.
Sauber und ordentlich soll sie beerdigt werden. Das ist mir wichtig. Ich bin dem Mann vom Beerdigungsinstitut behilflich, als er sie in den Sarg legt. Die Rosenblüten passen wirklich gut zu ihrem Nachthemd, eine gute Wahl. Vater bringt einen Rosenkranz. Der Bestatter versucht, ihr die Hände zu falten. Sie rutschen immer wieder auseinander. Jetzt im Tod will sie nichts vom Beten wissen. Schließlich windet er den Rosenkranz um die widerspenstigen Finger.
Nachdem noch zwei ältere Nachbarinnen sich von ihr verabschieden, wird ihr Sarg am Abend nun endlich abgeholt.
Eiche rustikal verschwindet im chromblitzenden, dunklen, schicken Leichenwagen.
Nun gibt es keinen Grund mehr, diesen Ort der Verdammnis aufzusuchen. Mutter ist nun endlich tot. Darüber bin ich sehr froh. Zumal mir eine Verstorbene wohl kaum noch Leid zufügen kann. Außerdem hoffe ich, dass ihre Seele tatsächlich einen Bewusstseinssprung erfährt.
In der Ewigkeit haben Geistwesen ja angeblich die Chance, ihr Leben hier auf Erden zu überdenken und von einer anderen Position zu interpretieren. Sie kann diese Möglichkeit nun nutzen. Vielleicht unterstützt sie mich tatsächlich als persönlicher Schutzengel, wer weiß?
Möglicherweise liegt der Sinn des Lebens im Wachstum unserer Seelen. Erfahrungen sammeln und daraus lernen. Ohne sie zu bewerten. Diese Vorstellung mag ich. Sie hat etwas Schlüssiges.
Im seichten Wasser der Esoterikwelle lässt sich das harte Leben besser annehmen, als dieser ganze Kram mit dem gepeinigten Jesus am Kreuz. Das Foltersymbol der erbschuldbehafteten Christen. Nun, jeder nach seiner Fasson.
Vermutlich sind ein gelungenes Leben und ein zufriedenes
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