Die Lebenskünstlerin (German Edition)
entspannt bin ich bei Tisch, sehe, dass einige Möchtegernvegetarier mit aasgierigen Augen auf die panierten Schweineschnitzel stürzen.
Unvermeintliche Diskussionen und Anschuldigungen sind die Folge. Eben noch Besinnung und innere Einkehr, jetzt Mundraub und Überlebenskampf.
Ganz normale Menschen eben.
Mario rennt hektisch zwischen den Tischen herum, möchte noch Kartoffelbrei, doch niemand gibt ihm welchen ab. Adrian sitzt mir gegenüber und sieht mich verdutzt an, als ich unseren Brei anbiete. Keiner am Tisch wagt zu widersprechen, Mario zieht dankbar mit seinem gefüllten Teller weiter.
Immer noch sieht mich Adrian an, er hat mit dem Essen aufgehört und sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Ich mache ihm nicht den Gefallen, darauf zu reagieren. Sondern überspiele die Situation und esse weiter.
Sein Blick hat etwas Spöttisches, fast Zynisches an sich, als hätte er schon alles gesehen und getan. Mir ist er unsympathisch und so bin ich froh, als er endlich kommentarlos verschwindet.
Als er außer Hörweite ist, geht das Geschnatter auch an meinem Tisch los. Adrian scheint zuvor alle in seinen Bann gezogen zu haben. Maria erklärt beschwörerisch und mit vollem Mund: „Der Adrian kommt gerade aus der Geschlossenen, das habe ich vorhin vom Jonas gehört.“
Nun, das ist nicht verwunderlich. Hier sind viele, die schon Patienten der Psychiatrie waren. Manche einmal, manche sind regelrechte Drehtürpatienten.
„Adrian ist nicht ohne“, beteuert meine Tischnachbarin wichtigtuerisch und erzählt in den schillerndsten Farben von dessen letzter Psychose.
Nun, hiernach ist er wirklich nicht ohne:
Stimmen aus den Heizungsschächten hätten von ihm verlangt, dass er niemals den Fernseher ausmacht, denn die Moderatoren würden wichtige verschlüsselte Nachrichten überbringen von einer außerirdischen Invasion, die nur er ablenken könnte. Dazu müsse er braune Hühner opfern.
Was er angeblich auch tat. Sein Nachbar, der geschädigte Hühnerbesitzer, alarmierte erbost die Polizei. Die fanden Adrian in seinem Garten nackt und blutverschmiert, mitten im Winter, während er die toten Hühner an einen Baum nagelte und dabei unverständliche Dinge vor sich hin sang.
Klingt nicht gerade beruhigend, aber ich bin ja kein Huhn.
Genervt eise ich mich von der mitteilungsfreudigen Maria los und gehe aufs Zimmer, um mich für einen besonderen Spaziergang zu rüsten.
Vor meiner Tür steht dieser Adrian. Er stiert mich an und verschwindet dann einfach. Komischer Vogel. Oder besser komischer Hahn.
Meine Therapeutin regt sich regelmäßig auf, wenn ich ihr von den Freizeiten erzähle. Sie empfindet diese als gefährlich. Da wären so viele neurotische, psychotische und sonstige Kranke, die unberechenbar seien.
Na, so schlimm ist es nicht. Aber hin und wieder ist ein Kandidat darunter, der aus der Reihe tanzt. Dennoch, der emotionale und geistige Nährwert ist unermesslich für eine Suchende wie mich.
Bestückt mit Stiften und dickem Papier sitze ich am Zimmertisch, denn ich will mein Abschiedsritual vorbereiten. Es ist nicht mehr lange bis zum Jahreswechsel, vorher möchte ich wenigstens symbolisch das Alte loslassen.
Elena stürmt mit Carmen in den Raum, lachend, schwatzend. Als sie mich da ruhig arbeiten sehen, erkläre ich ihnen mein Vorhaben.
Ich notiere auf festem Papier, was ich loslassen möchte und was ich mir für mein zukünftiges Leben wünsche. Nachher bastle ich ein Schiffchen daraus, so wie es jeder kennt. Das wird dann vom kleinen Holzsteg aus ins Wasser gesetzt. So können sich alle meine Wünsche auf den Weg machen. Gleichzeitig wird auf diese Weise symbolisch Altes losgelassen.
Meine beiden Lieblingsfrauen finden die Idee großartig und greifen sofort zu Papier und Stift, um ebenfalls ihre Wünsche aufzuschreiben. Schöner Gedanke, mit ihnen mein Vorhaben gemeinsam durchzuführen.
Elena, die ständig ihre Trauer um ihren Bruder mit Aktionen wegmacht und Carmen, die isst, statt zu fühlen. Fast andächtig und hochkonzentriert sitzen sie mit mir am Tisch.
Auf meinem Schiffchen steht nun folgendes:
Ich lasse Konrad in Frieden und Dankbarkeit vollständig los.
Ich bin bereit für die Liebe (zu mir selbst) und für alles Gute in meinem Leben.
Ich lasse meine Angst vor der Zukunft los und werde mich auf mein eigenes Potential konzentrieren. Ich gehe liebevoll und achtsam mit mir um.
Wir ziehen dicke Jacken über, Mützen, Schals, Handschuhe und machen uns mit der symbolischen Bastelei
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