Die Lebenskünstlerin (German Edition)
frischen, sauberen Schnee neben den Bahnschienen entlang.
Ebenmäßige, unberührte, weiße Pracht verzaubert die reizende Landschaft. Schnee, der noch wie solcher aussieht, der laut knirscht, wenn ich ihn mit meinen Stiefeln zum Boden drücke.
Tief atme ich die eisig kalte und klare Luft ein, sie bringt möglicherweise klärende Gedanken. Hier und da höre ich leise das Bellen eines Hundes aus dem inzwischen weit entfernten Dorf.
Diese herrliche Natur ist genau das, was ich jetzt brauche. Wohl denke ich an Claus-Richard, mit dem ich hier unzählige Male entlang gegangen bin, mein Feizeitfreund, doch jetzt bin ich froh, dass er nicht kommen wird.
Mit ihm würde ich niemals zur inneren Einkehr gelangen, das, was ich mir für meinen Aufenthalt hier wünsche. Seine Anwesenheit hätte mich wieder innerlich und äußerlich mobilisiert, ich würde sein Werben genießen und ihn dazu noch kräftig anstacheln.
So kann ich mich in den nächsten Tagen ausschließlich um mich selbst kümmern. Altes loslassen. Abschied nehmen. Diese Themen sind bei mir nun angesagt.
In der Gegenwart ankommen. Erfahrungen auswerten. Bereitschaft entwickeln, für mein Leben mit all seinen Fassetten die Verantwortung zu übernehmen.
Ohne mich mit Kontakten wegzumachen.
Als es zunehmend dämmert, laufe ich den altbekannten Weg zurück zur Mühle.
Als erstes höre ich die weinerliche Stimme von Ferdinand, als ich der Herberge näher komme. Er heult und schluchzt.
Leide weiter, du bedauernswertes Opfer!
Irgendeinem geduldigen Zuhörer mit einem unbearbeiteten Abgrenzungsproblem erzählt er gerade, dass er seine Wohnung verloren hat.
Wieder einmal.
Er könne sich doch wegen seiner frühkindlichen Störungen nicht um eine andere kümmern, deswegen sucht er hier bei Freunden eine Bleibe.
Langsamer als zuvor lenke ich meine Schritte an den vielen parkenden Autos vorbei.
Hier steht auch Martins roter Polo, verrostet und vollbepackt mit blauen Tüten. Anscheinend das Hab und Gut von Ferdinand, dem Wohnungssuchenden mit frühkindlichen Störungen. Allerdings ist Ferdinand fast sechzig und mein Mitleid hält sich nicht nur in Grenzen, ich glaube, ich habe keines.
Ich begrüße einige Bekannte aus vorangegangenen Freizeiten.
Da ist auch das selbsternannte Alphamännchen, Rüdiger-Kind, der immer mit einem alten bunten Jeep anreist und von dem Geld seiner Mama lebt. Unter Umständen legt sie ihm täglich auch die Klamotten zum Anziehen bereit. Feinripp, die symbolgewordene Spießigkeit des Mannes, der zur Sportschau sein Bier schluckt.
Er ist einer der alten Hasen, so Ende fünfzig, ein ewiges Kind mit erwachsenem Körper. Langsam wird er gewaltig faltig, der Gute, denke ich, als ich ihn zur Begrüßung umarme.
Vor dem Abendessen gehe ich in unser Zimmer, treffe auf Carmen, die schnell noch einen Schokoriegel verputzt und nehme sie mit in den Speisesaal ins Erdgeschoss. Auf der Treppe nach unten höre ich schon Elenas dröhnendes Organ.
Hier und da gibt es für mich noch ein lautes Hallo , ein paar Umarmungen und dann zählt nur noch das Essen, denn ich bin arg hungrig.
Carmen wirkt etwas schüchtern, setzt sich schnell neben mich und wartet still auf die Essensausteilung.
Im großen Speisesaal herrscht reges Treiben, es ist unsagbar laut und ich frage mich wie so oft, warum ich das alles freiwillig mitmache.
Wie in einem Kindergarten geht es auch wenig später beim Essen zu. Es werden akribisch genau die Gurken abgezählt und erregt um das offensichtlich zu gering bemessene Körnerbrot gefeilscht.
Lothar, der Organisator, verschafft sich mit einer Glocke rücksichtslos Gehör und kündigt die abendliche Vollversammlung an. Mager und bleich sieht er aus, übernächtigt und ausgezehrt. Wahrscheinlich ist die ganze Organisation zu viel für diesen depressiven Mann.
Die Vollversammlung zieht sich endlos in die Länge, ich träume vor mich hin und passe dann aber auf, damit ich am Ende bei der Aufgabenverteilung keinen unliebsamen Job erwische. Denn vom Küchendienst bis auf das abendliche Abschließen gibt es unzählige Arbeiten zu vergeben.
Später treffe ich mich noch mit Einigen zum Tee, verschwinde dann aber aus dem Raum, als ein paar Männer mit dem Kartenspielen beginnen. Dieses Geschrei und Gezeter will ich mir nicht antun.
Statt nur den Alkohol und das Rauchen zu verbieten, sollten solche Spiele ebenso tabu sein. Spielsucht verursacht schließlich großes Leid und zudem noch voluminöse Schuldenberge.
Mit der
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