Die leere Wiege: Roman (German Edition)
langsam aus. »Weil Emma und ich einen Streit hatten. Wegen der Mörderin, die dort drüben sitzt.«
Beim Verlassen des Zeugenstands wirft er mir einen hasserfüllten Blick zu.
Vor vierzehn Tagen hat die Verhandlung begonnen. Heute wird Nurse Hall als Zeugin aufgerufen. Von allen Schwestern des Krankenhauses war sie mir die liebste. Im Gerichtssaal scheint sie sich unbehaglich zu fühlen, denn sie spricht sehr leise und berührt immer wieder ihr Haar.
Mr Thomas tritt als Erster vor den Zeugenstand. »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, Miss Hall. Wahrscheinlich war es für Sie nicht einfach, sich heute freizunehmen. Ich vermute mal, das, was Sie auf der Kinderstation in der Klinik erleben, ist mitunter herzzerreißend.«
»Allerdings.«
»Wenn ich recht informiert bin, haben Sie Rose Wilks im Krankenhaus kennengelernt, als sie dort ihren Sohn entbunden hat.«
»Richtig. Der kleine Joel lag auf der Intensivstation. Ich habe mich um Rose gekümmert, denn ich wusste, wie sehr sie unter dem schlechten Zustand des Jungen litt. Trotzdem war sein Tod für uns alle ein Schock.«
Mein Magen zieht sich zusammen.
»Wie hat Miss Wilks auf den Tod ihres Kindes reagiert?«
»Sie war verzweifelt. Ebenso ihr Partner. Die beiden waren außer sich vor Kummer.«
»Verhält sich so jemand, der eines Mordes fähig ist?«
»Einspruch!«, ruft der Staatsanwalt. »Miss Hall ist Krankenschwester, keine Psychologin.«
»Stattgegeben«, sagt der Richter. »Bitte formulieren Sie die Frage neu, Mr Thomas.«
»Miss Hall, hatten Sie jemals Zweifel daran, dass Rose ihren Sohn geliebt hat?«
»Nie!« Ihre Stimme ist nun deutlich lauter.
»Als Sie Rose mit dem kleinen Luke in dem Café sahen, hat sie ihm da etwas anderes als Fürsorge und Zuneigung entgegengebracht?«
»Nein, sie war sehr liebevoll.«
Ich fange den Blick der Frau in dem rosa Blümchenkleid, das sie heute wieder trägt, auf der Geschworenenbank ein, um sicherzugehen, dass sie diese Aussage gehört hat.
»Vielleicht war ihre Hingabe ein wenig übertrieben, womöglich weil sie ihr eigenes Kind verloren hatte, aber gab es für Sie Anzeichen, dass sie dem Jungen schaden wollte?«
»Nein, nicht schaden.« Nurse Hall hält inne. »Erst als mir klar wurde, dass sie ihn stillte, kam mir das irgendwie merkwürdig vor.«
Mr Thomas ist gut vorbereitet. »Merkwürdig vielleicht. Aber auch schädlich?«
»Das wohl eher nicht.«
»Bei anderen Völkern ist es durchaus üblich, dass Kinder von Frauen gestillt werden, die nicht ihre Mütter sind. Selbst bei uns hat es vor noch nicht allzu langer Zeit wohlhabende Frauen gegeben, die just zu diesem Zweck Ammen eingestellt haben.«
»Mag sein.« Nurse Hall klingt unsicher.
»Ich danke Ihnen. Keine weiteren Fragen.«
Eine tiefe Zuneigung für Nurse Hall durchflutet mein Herz. Der Frau in Rosa würde ich am liebsten zurufen: Sehen Sie, ich habe Luke geliebt! Ich hätte ihm nie etwas angetan!
Mr Thomas wartet, bis Nurse Hall den Zeugenstand verlassen hat, dann wendet er sich zu den Geschworenen um.
»Meine Damen und Herren Geschworenen, die Entscheidung liegt nun bei Ihnen. Halten Sie diese Frau hier für fähig, einen Mord zu begehen? Oder wirkt sie auf Sie wie eine ganz normale Frau, die ihren Sohn Joel geliebt hat. Eine Frau, die einen schrecklichen Verlust erlitt und anschließend Opfer einer tragischen Verkettung von Umständen wurde? Müssen wir uns beim Anblick dieser armen Frau nicht alle sagen, dass uns nur die Gnade Gottes bisher vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt hat?«
Er holt tief Luft und macht eine lange Pause, ehe er weiterredet.
»Rose gibt zu, in der Nacht, in der Luke gestorben ist, in seinem Zimmer gewesen zu sein. Ebenso gibt sie zu, dass ihr Aufenthalt dort falsch war, dass sie ihrer Liebe nicht hätte nachgeben und den Jungen stillen dürfen. Aber sie trauerte um ihren eigenen Sohn und war depressiv. Rose besteht darauf, dass sie im Haus der Familie Hatcher nicht geraucht hat. Mrs Hatcher wiederum hat zugegeben, dass sie selbst Raucherin ist. In der besagten Nacht hatte sie einen Streit mit ihrem Ehemann und war aufgewühlt. Folglich hätte es ihre Zigarette gewesen sein können, die den Brand verursachte. Doch ganz gleich, wie es zu dem tragischen Unglück kam, eins ist sicher: Rose Wilks hat kein Feuer gelegt, um Luke Hatcher zu töten. Ich bitte Sie nun, das einzig richtige Urteil zu fällen, denn Rose Wilks hat weder einen Mord begangen noch sich des Totschlags schuldig
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