Die leere Wiege: Roman (German Edition)
Sarg, voller Furcht, Mum könnte sich plötzlich bewegen. Einen Moment lang sah ich sie an, dann beugte ich mich vor, kniff die Augen zusammen und gab ihr einen zarten Kuss auf die Wange. Ich spürte ihren Wangenknochen und die kalte, unnachgiebige Haut.
»Sprich mit ihr.«
Ich richtete mich auf und fing an zu weinen. Heiße Tränen rannen mir über die Wangen in den Mund. Ich wischte sie ab.
»Sie kann dich hören, Rose. Und sehen. Ihr Körper ist nur noch eine Hülle, aber ihr Geist ist noch da, hier in diesem Raum.«
Schluchzend sagte ich: »Mum?«
»Na, siehst du.«
»Mum, ich möchte, dass du zurück nach Hause kommst.«
Rita zog mich an sich. »Deine Mum ist jetzt in der Welt der Geister, Rose. Sie kommt nicht mehr nach Hause, aber sie wird immer bei dir sein, wenn du sie brauchst. Und sie wird dir immer zuhören.«
Es war das erste Mal, dass mir jemand den Tod auf diese Weise erklärte. Bis dahin hatte ich mir den Himmel immer als Wolkenmeer vorgestellt oder als großen Garten, voller Vögel und Engel. Aber Rita sprach von Geistern, und später erklärte sie mir, dass man den Tod nicht fürchten müsse, weil der Himmel ein besserer Ort als die Erde sei, ein Ort der Geborgenheit.
Manche Vögel sind Nesträuber. Es liegt in ihrer Natur. Sie müssen die Küken in den Nestern anderer Vögel töten.
Und manche Frauen rauben Männer und denken sich nichts dabei.
In den ersten Monaten nach Mums Beerdigung war mein Dad in so schlechter Verfassung, dass ich Mrs Carron wahrscheinlich hätte dankbar sein sollen. Sie hielt den Laden am Laufen und kochte für uns. Mein Vater saß bloß hinter der Theke und starrte ins Leere. Wenn Vertreter kamen, schaute er stirnrunzelnd in ihre Kartons, als wüsste er zwar noch, was Lakritzstangen und weiße Makronen waren, aber nicht mehr, was er damit anfangen sollte. Die Regale wurden nicht aufgefüllt, die Glasbehälter blieben leer. Und so machte Mrs Carron sich eines Tages daran, die Ware zu ordern. Dienstags brachte sie das Geld zur Bank. Abends machte sie mit kleiner, adretter Handschrift Eintragungen in das Kontenbuch. Unterdessen saß mein Vater zusammengesunken im Sessel und hielt eine vergessene Tasse Tee in der Hand. Mrs Carron lächelte ihn an, nahm ihm die kalte Tasse ab und machte ihm einen frischen. Doch mit der Zeit begann er den Tee wieder zu trinken, er aß, was sie gekocht hatte, und schien vergessen zu haben, dass sie eigentlich gar nicht zu uns gehörte.
Ich dagegen vergaß es nicht. Ich beobachtete Mrs Carron. Ich wusste, dass sie nicht meine Mutter war und kein Recht hatte, so zu tun, als ob.
An welchem Tag sie bei uns einzog, weiß ich nicht mehr genau. Dabei hätte es ein unvergessliches, dramatisches Ereignis sein müssen, dieser Moment, in dem meine Mutter ersetzt wurde. Doch Mrs Carron kam leise daher, wie auf Samtpfötchen. Eines Tages drehte ich mich um, und sie war einfach da. Hätte sie mir von hinten auf die Schulter getippt, hätte ich entsetzt aufgeschrien.
Für meinen Bruder war das anders. Nach dem Tod meiner Mutter benahm er sich noch auffälliger als zuvor. Er war zornig, so zornig, dass er sogar nach Kätzchen trat, wenn sie ihm zu nahe kamen. Als Mrs Carron bei uns einzog, wurde Peter ruhiger. Da er nicht viel begriff, behandelte sie ihn wie ein Baby, drückte ihn an sich und wuschelte ihm durchs Haar. Zu seinem Geburtstag schenkte sie ihm eine elektrische Gitarre, und er sagte, das sei das schönste Geschenk, das er jemals bekommen habe. Er mochte Mrs Carron. Einmal nannte er sie Mutter, und sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ich sagte nie Mum zu ihr. Sie hatte mir meinen Vater gestohlen.
Wenn ich daran zurückdenke, bin ich sofort wieder in unserem Haus. Sitze nicht mehr hier im Gefängnis, sondern bin einfach nur ein kleines Mädchen.
—
Ich muss hinter das Geheimnis von Mrs Carron kommen. Ich muss herausfinden, warum mein Dad sie so sehr liebt, dass er darüber meine Mutter vergessen hat.
Mein Vater weiß nicht, dass Mrs Carron nicht von Natur aus schön ist. Ich schon. Ich habe gesehen, wie sie es macht. Auch beim Schlafen habe ich ihr zugeschaut. Sie liegt im Bett meines Vaters, auf der Seite, auf der sonst meine Mutter geschlafen hat. Ein paarmal habe ich mich ins Schlafzimmer geschlichen und ihren nackten Rücken berührt. Einmal wurde sie wach und sah, wie ich mich über sie beugte. Sie riss das Laken über ihre Brüste, verbarg ihre braunen Brustwarzen und nannte mich verrückt. Das durfte nie wieder
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