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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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Rosie«, sagte er.
    Mrs Carron erschien und reichte ihm ein Glas Whisky. Er sagte: »Danke, Isabel.«
    Auf die Weise erfuhr ich ihren Vornamen, doch für mich sollte sie immer Mrs Carron bleiben. Lächelnd trat sie auf mich zu und wollte mir einen Kuss geben. Ich sah nur ihre Zähne und zuckte zurück, sodass ihr Mund auf meinem Kinn landete. Ich wusste, dass sie Witwe war, obwohl sie mir dafür noch recht jung schien. Ihr Rock war schwarz, die Bluse jedoch aus roter Seide. Sie hatte rosa glänzende Lippen und trug dicke Goldohrringe. Mir gefiel nicht, wie sie meinen Dad anschaute. Ihr Blick erinnerte mich an den unserer Katze, wenn sie aus dem Garten einen toten Vogel mitbrachte. Mrs Carron führte meinen Vater in die Küche und schloss hinter ihnen die Tür. Als die beiden weg waren, wischte ich mir übers Kinn. Anschließend hatte ich rosa Lippenstift an der Hand.
    Ich wusste nicht, wo Peter war, aber es interessierte mich auch nicht. Zwar redete niemand mit mir, aber die Leute, die mit mir im Wohnzimmer waren, sahen häufig zu mir herüber, als wären mir Hörner gewachsen oder so was in der Art. Plötzlich teilte sich die Gruppe an der Tür, und eine füllige Frau in einem voluminösen Pelzmantel trat ein. Sie trug einen winzigen Hut, als balanciere sie eine Pastete auf dem Kopf, mit einem Stück schwarzer Spitze, das über ein Auge fiel. Trotzdem erkannte ich Tante Rita sofort, sprang auf und lief auf sie zu.
    »Liebe Zeit, Rose, wie groß du geworden bist. Bald bist du ja schon ein Teenager.«
    Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer schwarz glänzenden Handtasche, spuckte darauf und wischte mir kopfschüttelnd den Lippenstift vom Kinn. Sie roch wie ein ganzer Rosenstrauß, und ich wollte mich auf der Stelle in ihrem weichen Mantel vergraben.
    »Das ist kein echter Pelz, aber wer sieht das schon?«
    »Er ist so weich.«
    »Aber zu warm.« Sie streifte den falschen Pelz ab und enthüllte ein enges schwarzes Kleid und schwabbelige Knie in dicken braunen Strümpfen. »Ich muss mich setzen, Rose. Meine Beine sind schwer wie Blei.«
    Tante Rita ließ sich auf einen Stuhl sinken. Ihre schweren Schenkel quollen über die Kanten der Sitzfläche. Sie war zehn Jahre älter als mein Dad und wohnte in Felixstowe, etwas weiter südlich als wir, weshalb wir sie nur selten sahen. Aber ich freute mich jedes Mal auf ihren Besuch, denn außer ihren Zigaretten hatte sie immer lila Bonbons in der Handtasche. Jetzt wollte ich den Kopf an ihre Brust legen und von Rita gehalten werden.
    Sie hob mein Kinn an. »Warst du schon im Esszimmer?«
    Ich schüttelte den Kopf. Unser Esszimmer war nicht sehr groß. Wir benutzten es nur an Weihnachten und zu besonderen Mahlzeiten. Ab und zu hatte meine Mutter dort gesessen und gelesen. Die Tür war den ganzen Vormittag geschlossen geblieben, obwohl ich gesehen hatte, dass immerzu Leute hineingingen und wenig später wieder herauskamen. Ich nahm an, dass es dort Häppchen gab.
    »Dann gehe ich jetzt mit dir hinein. Da drinnen liegt deine Mutter, von der du dich verabschieden musst.«
    Ich rang nach Atem. Mum war im Esszimmer! Im Geiste sah ich sie dort in ihrem Lieblingssessel sitzen und mit den Leuten reden, die zu ihr kamen. Warum hatte mir das niemand gesagt? Ich wollte zu ihr laufen, damit sie mich in die Arme schließen und mir einen Kuss aufs Haar drücken konnte. »Wo warst du denn, Rosie?«, würde sie sagen. »Ich habe auf dich gewartet.« Dann würde ich ihr das Amselnest zeigen, das ich für sie aufgehoben hatte.
    Ich befreite mich aus Ritas Griff, stürzte aus dem Wohnzimmer und im Flur an all den schwarz gekleideten Fremden vorbei. Ich riss die Tür des Esszimmers auf und brannte darauf, meine Mum wiederzusehen.
    In dem Raum war es dämmrig, und es gab keine Häppchen. Dann erst sah ich die dunkle Kiste aus Holz, die aufgebockt auf zwei Stühlen stand. Zögernd trat ich näher, nahm wahr, dass die Kiste mit weißem Satin ausgeschlagen war, und erkannte die Nasenspitze meiner Mutter. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und warf einen Blick auf ihr Gesicht. Sie war kalkweiß, beinah konturenlos, als hätte jemand alle Farbe aus ihrem Gesicht gewischt und nur eine Wachsmaske wäre geblieben. Ihre Augen waren geschlossen, das blonde Haar offen.
    »Gib ihr einen Kuss.«
    Ich zuckte zusammen. Hinter mir war Tante Rita eingetreten. Sie legte mir eine schwere Hand auf die Schulter und drückte mich an ihren weichen, warmen Körper. »Komm schon, Rose.«
    Ich schlich mich näher an den

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