Die leere Wiege: Roman (German Edition)
passieren.
Die Schranktür im Schlafzimmer meines Vaters schließt nicht richtig. Ich finde es schön, mich zwischen seinen Sakkos und Hosen zu verstecken. Ich mag den Geruch, der mich an den von Büchereien erinnert: stickig und tröstlich. Verbrauchte, überhitzte Luft.
Durch den Türspalt sehe ich Mrs Carron. Sie streift ihren Morgenmantel über und mustert sich im Spiegel. Dann setzt sie sich, windet ihr Haar zu einem lockeren Knoten und steckt ihn oben auf dem Kopf fest. Aus einer Glasflasche schüttet sie ein paar Tropfen auf ihre Finger und verteilt süßlich riechende Creme auf Gesicht und Hals. Wenn ich ihren Lidschatten sehe, weiß ich, wie die Farbe ihres Kleids sein wird. Heute ist es grün. Mit glänzenden Fingern streicht sie sich über die geschlossenen Lider. Aber das Beste kommt, wenn sie sich die Lippen schminkt. Sie spannt das Gesicht an, öffnet den Mund und reißt die Augen auf, als hätte sie sich erschrocken. Dann bemalt sie die blassen Lippen mit ihrem rosa Lippenstift. Sie legt den Morgenmantel ab und stellt sich nackt vor den zweiten Schrank, so nah bei mir, dass ich sehe, wie ihre Brust sich mit jedem Atemzug hebt und senkt. Ich erkenne das Muttermal auf ihrer Hüfte und bete, dass sie nicht hört, wie mein Herz hämmert.
Wenn wir unten sind, verstummt Mrs Carron, sobald ich den Laden betrete, und mein Dad betrachtet mich prüfend. Ich lege Geld in die Kasse und suche mir eins der Gläser aus. Inzwischen bin ich groß genug, um allein daran zu gelangen.
»Rose, warum bringst du eigentlich nie Freunde mit nach Hause?«, sagt mein Vater. »Ist in der Schule alles in Ordnung?«
»Klar.«
Ich mache mich daran, ein Viertelpfund Zitronendrops abzuwiegen. Aus der Tüte steigt Zitronenstaub auf. Ich kann das süßliche Parfum von Mrs Carron riechen, stecke mir ein Bonbon in den Mund und fange an zu lutschen.
Sie sagt: »Ich weiß, dass es für dich schwer sein muss, schließlich hast du deine Mutter verloren.« Verloren. Das Zitronenbonbon schmeckt säuerlich scharf. Ich ziehe eine Grimasse. »Aber wir müssen es uns doch nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist.«
Mein Zimmer grenzt an das Schlafzimmer meines Vaters. Die Wände sind nicht dicker als Pappkarton. Ich ziehe das Bananarama-Poster von der Wand und reiße mit dem Klebestreifen ein Stück Gips ab. Das bringt mich auf den Gedanken, ein kleines Loch in die Wand zu bohren. Denn in dem Schlafzimmerschrank kann ich mich nicht immer verstecken. Das ist zu riskant.
Zuerst bohre ich mit einem Messer, doch die Klinge wird rasch stumpf. Um die Wand zu durchstechen, muss ich mir aus der Küchenschublade einen Schraubenzieher holen. Ich achte darauf, das Loch genau passend zu machen, groß genug zum Durchgucken, klein genug, dass man es nicht sieht. Zum Glück hat die Tapete im Schlafzimmer ein Blumenmuster, und das Loch liegt inmitten einer üppigen Blüte. In meinem Zimmer ist es so hoch, dass ich mich zum Durchgucken auf die Zehenspitzen recken muss.
Ich hasse das Kreischen von Peters elektrischer Gitarre, wenn er spielt, aber wenigstens bleibt er dann in seinem Zimmer und nervt mich nicht. Wenn ich nicht da bin, geht er in mein Zimmer, das weiß ich. Aber manchmal schleicht er sich auch von hinten an mich heran und freut sich, wenn ich vor Schreck zusammenfahre. »Was machst du da, Fettsack?«, fragt er dann, und ich brülle, er solle abhauen. Ich erzähle es Dad, aber der weigert sich, ein Schloss an meiner Tür anzubringen, deshalb stelle ich jetzt immer einen Stuhl unter den Türgriff.
Wenn Dad im Schlafzimmer ist, linse ich nicht durch das Loch, denn das wäre nicht richtig. Aber morgens, wenn ich draußen den Milchwagen klappern höre und von unten das Gedudel des Radios herauftönt, weiß ich, dass die Luft rein ist. Dann ist Dad im Laden, und Mrs Carron ist allein.
Sie hat es dermaßen schlau angestellt und ist so unauffällig bei uns eingezogen, dass ich glaube, Dad hat es gar nicht bemerkt. Zuerst brachte sie nur eine Zahnbürste und einen Kamm mit. Dann ein paar Kleider, die sie im Schrank zu den Kleidern meiner Mutter zwängte. Aber eines Tages sah ich durch meinen Spion, wie sie Mums Kleider herauszog und in Müllsäcke stopfte. Bei der besten Bluse meiner Mutter zögerte sie, der weißen, seidigen, die sie jedes Weihnachtsfest getragen hatte, und hielt sie sich vor. Die Bluse hätte ihr gepasst, doch Mrs Carron warf sie trotzdem weg, als könne man meine Mum zum Einsammeln für die Müllmänner
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