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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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meiner Mutter abends erzählen konnte, wie es den Vögeln ging. Es war das Einzige, was sie zu interessieren schien. Als ich ihr sagte, die Küken seien geschlüpft, freute sie sich sehr. Ich schilderte ihr die drei Vogeljungen mit den mageren Hälsen, die kaum Federn hatten. Es kam mir vor, als überreichte ich Mum ein großes Geschenk. Von unserem Daunenhäuschen aus sahen wir zu, wie die Amseleltern mit Würmern und Maden im Schnabel hin und her flogen, voller Glück, weil ihre Kleinen so gut aufgehoben waren.
    Obwohl man sich einer Sache nie sicher sein kann.
    An dem Tag, als ich die drei Küken entdeckte, etwa eine Woche nachdem ich den roten BH von Mrs Carron gesehen hatte, zog ich meinen blauen Baumwollkittel an und besuchte meine Mutter vor Schulbeginn. Sie war wach, lag jedoch ganz still da, schenkte mir ein kleines Lächeln und bat mich, ihr eines ihrer Fläschchen zu reichen.
    »Heute stehe ich vielleicht auf, Rose«, sagte sie.
    Ich machte einen Luftsprung und stieß einen Freudenschrei aus. Der Anfall war vorüber. Ab heute würde meine Mutter wieder normal sein. Von all den früheren Phasen wusste ich, dass sie nach den schlimmen »wirren« Tagen wundervoll sein würde. Sie würde mit mir zum Strand gehen und mir Eiscreme kaufen und all die Tage wieder wettmachen, die sie im Bett verbracht hatte.
    Ich stürmte aus dem Haus, schlug Peter auf den Arm und rannte weiter, so voller Elan, dass ich an dem Tag bis zum Ende der Welt hätte laufen können. Dabei wollte ich nur den Schultag hinter mich bringen und wieder bei meiner Mutter sein. Ich wusste, dass sie unten im Haus auf mich wartete. Angekleidet und startbereit.
    Erst als ich im Klassenzimmer hinter dem widerlichen Alfie saß und gegen seinen Stuhl trat, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, nach den drei Amseljungen zu schauen. Ich sagte mir, das sei nicht weiter schlimm, mit Sicherheit würde meine Mutter nach ihnen sehen, gleich nachdem sie angekleidet war. Nachts würde Dad von nun an ja wieder in ihrem Bett schlafen, und alles wäre wieder wie immer. Selbst dass Alfie mir einen zerknitterten Zettel zusteckte, auf dem stand, er sei in mich verknallt, machte mir nichts aus.
    Nach der Schule rannte ich so schnell nach Hause, dass ich stolperte und hinfiel, aber auch das aufgeschlagene Knie war mir egal. Ich lief an Peter und seinen Freunden vorbei, rannte immer weiter und stürzte in den Laden. Die Glocke hörte ich gar nicht, ich sah nur den leeren Raum. Wo war sie?
    Ich rief: »Mum? Mum!«
    Dann hörte ich ein Geräusch aus dem Lagerraum. Ein Stöhnen. Eine Frau, die klang, als hätte sie Schmerzen. »Mum? Bist du das?«
    Ich riss die Tür auf. Aus dem Stöhnen wurde Keuchen. Ich erkannte Dads Rücken und zwei Hände auf seinen Schultern. Er drückte jemanden gegen die Wand.
    »Mum?«
    »Ich bin hier, Rose.« Ihre Stimme ertönte in meinem Rücken.
    Ich fuhr herum. Meine Mutter stand hinter mir, das Haar noch feucht vom Waschen, angekleidet und nach einem neuen Tag riechend. Doch ihr Blick glitt über mich hinweg ins Lager, zu Dads Rücken und den beiden Händen.
    »Mein Gott«, sagte sie nur.
    Ich wünschte mir so sehr, ich hätte sie vor all dem bewahren können.
    Doch sie stieß mich zur Seite, und ich hörte ihren schrillen Schrei. »Du Dreckskerl!«
    Dad drehte den Kopf zu uns herum. Gleich darauf lösten sich hastig zwei Körper voneinander, und Kleidungsstücke wurden mit fliegenden Händen zurechtgerückt. Mein Vater trat einen Schritt auf uns zu. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und seine Haare waren zerwühlt. Hinter ihm erkannte ich Mrs Carron, die obenherum nur ihren roten Büstenhalter trug, im Gesicht ein zufriedenes Grinsen. Meine Mutter krümmte sich, als hätte jemand sie in den Magen geboxt, und fing an zu weinen.
    Ich rannte aus dem Laden, umrundete das Haus und warf mich am Fuß des Elaeagnus ins Gras. Da sah ich sie vor mir liegen.
    Zwei winzige Babydrachen. Ohne Gefieder, mit dürren Hälsen und großen schwarzen Knopfaugen, jedes Küken mit einem ausgebreiteten Flügel.
    Gleich darauf flog eine Elster aus dem Elaeagnus. Mit ihrem grausamen Schnabel umklammerte sie einen Hauch Leben. Die Elster ruckte mit dem Kopf und warf den winzigen Vogel zu seinen toten Geschwistern ins Gras.
    Dann breitete sie ihre wunderschönen, glänzenden Flügel aus, warf mir einen flüchtigen Blick zu und war verschwunden.
     
    —
     
    Ich weinte für lange Zeit. Als ich endlich aufstand, ging die Sonne schon unter. Ich trat näher an den Baum,

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