Die leere Wiege: Roman (German Edition)
stellte mich auf die Zehenspitzen, schob die Hand behutsam unter das leere Nest und holte es sanft aus den Zweigen heraus. Es war zwar leer, aber es war immer noch ein Zuhause. Ich beschloss, das Nest meiner Mutter zu überreichen, als Geschenk.
Im Laden war niemand, weder meine Mutter noch mein Vater oder Mrs Carron. Auch von Peter keine Spur, dabei war er angewiesen, nach der Schule im Laden zu bleiben. Ich nahm an, dass meine Mutter in der Wohnung war. Dort wollte ich ihr das Nest geben. Ich schlug den Vorhang zur Seite und stieg die Treppe hoch. Nirgends war ein Laut zu hören, nur mein Magen knurrte, denn ich hatte Hunger. Ich beschloss, ein paar Süßigkeiten aus dem Eiscremebehälter zu essen, den ich unter meinem Bett versteckt hatte. Doch als ich mich in meinem Zimmer danach bückte, war er fort. Peter!, dachte ich sofort. Sicher hatte er den Behälter gestohlen. Jetzt saß er heimlich irgendwo und stopfte sich mit all den Köstlichkeiten voll, die ich seit so langer Zeit gehortet hatte. Wie viel Willenskraft es mich gekostet hatte, der Verlockung zu widerstehen.
Die Küche war leer, ebenso das Wohnzimmer. Nur Peters Schuhe lagen auf dem Boden, dort, wo er sie abgestreift hatte. Ich schaute ins Bad, ja sogar hinter den Duschvorhang, aber da war niemand. Jetzt blieb nur noch das Schlafzimmer meiner Eltern.
Die Tür war geschlossen. Vorsichtig drückte ich sie auf. Jemand lag im Bett, hatte sich unter der Decke verkrochen. Es war meine Mutter, denn ich erkannte ihren Körper. Arme Mum! Die Luft im Zimmer war warm und stickig, denn sie mochte keine geöffneten Fenster. Es behagte ihr nicht, die Geräusche der Außenwelt zu hören. Sie lag so reglos da, dass ich erst dachte, sie müsse tief und fest schlafen. Ich trat näher, wollte unter die Bettdecke kriechen, in unser Häuschen.
Das leere Nest legte ich auf ihr Kopfkissen, damit sie es sah, sobald sie die Augen öffnete.
Sie war sehr blass. Das lange blonde Haar lag zusammengedreht auf dem Kopfkissen. Sie hatte sich bisher nicht geregt. Mit einem Mal wollte ich sie küssen, denn das durfte ich doch sicherlich, solange ich sie nicht weckte. Ich kletterte auf das Bett und legte mich neben sie, voller Sorge, Dad könnte mich erwischen, und dennoch gebannt von ihrer Schönheit. Wenn sie aufwachte, würde sie vielleicht meinen Vater rufen und ihn bitten, mich zu holen. Dann würde mein Vater mich schlagen. Aber das Risiko war es mir wert. Ich wollte einfach bei ihr sein.
Ich berührte ihre Wange. Sie fühlte sich kühl und trocken an. Ihre leicht geöffneten Lippen waren aufgesprungen. Ich rückte ein Stück näher an sie heran und legte meinen Mund auf ihre Wange, dann auf ihre Lippen. Ich spürte die aufgeraute Haut. Auch ihre Lippen waren kühl. Ich wollte Mum in den Arm nehmen und sie mit meinem Körper wärmen. Sie hielt etwas in der Hand. Es war eins von ihren Fläschchen, in dem nur noch wenige rosa Bonbons waren. Ich versuchte, ihr das Fläschchen aus der Hand zu ziehen, doch es war, als hätte jemand ihre Finger an das Glas gelötet.
Da hörte ich einen erstickten Laut. Er kam aus dem Schrank.
Ich erstarrte und dachte an die gefürchteten Monster, die in Schränken hausen. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Ich rechnete schon mit einer pelzigen Pfote oder Krallen, hielt den Atem an und drückte mich an den reglosen Körper meiner Mutter. Die Tür öffnete sich weiter. Dann erkannte ich Peter. Sein Mund war mit Zucker beschmiert und stand offen.
»Ich habe genau gesehen, wie sie es gemacht hat«, flüsterte er. »Ich konnte nichts sagen, sonst hätte sie gewusst, dass ich mich im Schrank versteckt habe, und hätte mit mir geschimpft, weil ich deine Süßigkeiten esse.«
Zwischen seinen Füßen stand der Eiscremebehälter. Peters Augen waren rot und verquollen, über seine Wangen zogen sich Tränenspuren.
»Sie hat die ganzen Tabletten geschluckt. Und jetzt wird sie nicht mehr wach.«
11.
Eintrag in mein schwarzes Buch
Von der Beerdigung meiner Mutter habe ich hauptsächlich die gedämpften Stimmen schwarz gekleideter fremder Menschen in Erinnerung. Sie drängten sich in unserer Wohnung und fingen an zu flüstern, sobald ich vorüberkam. Niemand sprach mit mir. Ich hockte mich in eine Ecke des Wohnzimmers und wartete.
Irgendwann kam mein Dad und schwankte, als hätte er zu viel Bier getrunken, was er sonst nur an Weihnachten tat. Er tätschelte mir den Kopf und zupfte ungeschickt an meinen Haaren. »Du bist ein braves Mädchen,
Weitere Kostenlose Bücher