Die leere Wiege: Roman (German Edition)
sehr dünn. Als sie sich ein rotes Cocktailkleid vorhielt, war uns klar, dass es ihr wie angegossen passen würde.
»Probier es an«, drängte ich sie, denn ich wusste, dass sie darauf brannte.
»Das trau ich mich nicht. Was, wenn Mrs French etwas davon erfährt?«
Mrs French war die Hausdame, ein echter Drache, der die meisten Angestellten halb zu Tode ängstigte. Zu mir war sie jedoch immer nett.
»Sie wird schon nichts erfahren. Jetzt mach schon. Ich wette, es steht dir phantastisch.«
Eilig streifte Hannah ihre Uniform ab, erst die weiße Bluse, dann den marineblauen Rock, und enthüllte eine ausgefranste Unterhose und einen schmuddeligen BH.
»Hilf mir«, bat sie mich.
Ich zog ihr das rote Satinkleid über, das ihr wie eine zweite Haut passte. Als ich die dünnen Bänder in Hannahs Nacken zu einer nicht sehr gelungenen Schleife verknotete, zitterten meine Hände. Dann zog ich den Reißverschluss hoch, und über der blassen Haut schlossen sich silberne Zähne.
»Warte!« Ich lief zum Nachttisch und zog die Schublade auf, in der, neben der obligatorischen Bibel, Kikis schmutzige Unterwäsche lag, unter der sie ihre Schmuckschatulle aus rosa Leder verbarg. Ich kramte die Schatulle hervor und drückte den goldenen Schnappverschluss auf. Ich wusste genau, welches Teil ich wollte. Im Nu hatte ich die funkelnden Ohrringe in der Hand und reichte sie Hannah. Sie führte den Silberdraht durch das winzige Loch in ihrem zierlichen Ohrläppchen. Gleich darauf drehte sie den Kopf hin und her. Entzückt lauschte ich dem Klimpern der kleinen Brillanten.
»Ich bin schön«, sagte Hannah so verwundert, dass ich mich fragte, ob sie das vorher nicht gewusst hatte.
Wir glühten vor Aufregung und angesichts unseres tollkühnen Unterfangens. Einem Impuls folgend, griff ich nach Kikis Kosmetiktasche und suchte einen Lippenstift heraus.
»Tu das nicht, Rose. Was, wenn uns jemand sieht?«
»Es ist doch nur zum Spaß. Hinterher wischst du ihn dir wieder ab.«
Dennoch nahm ich es ernst und konzentrierte mich so sehr, dass ich mir auf die Lippe biss, während ich das leuchtende Rot auf Hannahs Mund auftrug. Der Lippenstift roch wie Plastik, das in der Hitze schmilzt. Er machte Hannahs Mund größer. Als ich fertig war, glänzten ihre Lippen so rot wie der Blutstropfen, der von meinen quoll. Ich zog Hannah den Haarreif ab, sodass ihr dunkles Haar lose über ihre Schultern fiel. Sie schaute nicht in den Spiegel, sondern mich an, und ich spürte, wie Stolz in mir aufwallte, weil sie meine Anerkennung suchte.
»Du siehst aus wie ein Filmstar.«
Sie lächelte ein wenig ungläubig. Ein junges Ding, das langsam ahnte, was es heißt, eine Frau zu sein.
»Ich wünschte, ich hätte so schöne Sachen, Rose. Dann könnte ich immer hübsch aussehen.«
Ich hob ihr Kinn an und gab ihr einen Kuss. »Du bist hübsch und wirst es immer sein.«
Dann sah ich mein Blut auf ihrem Mund und schmeckte ihren Lippenstift, als hätte ich eine zerdrückte Blüte auf der Zunge. Kichernd fielen wir auf das Bett, ich zog Hannah auf mich, umschlang sie und küsste sie leidenschaftlich. Sie stieß mich fort, doch ich wusste, dass sie nur scheu war, und wir etwas taten, was auch sie wollte. Deshalb hielt ich sie noch fester und spürte, wie sie sich auf mir wand, bis sie meinen Kuss schließlich erwiderte. Aber dann versuchte sie mit aller Macht, sich aus meinen Armen zu befreien, und im nächsten Moment hörten wir das grässliche Geräusch von zerreißendem Stoff. Wie erstarrt schauten wir auf das Kleid, das an der Seite aufklaffte, wo die Naht aufgeplatzt war.
Hannah sprang auf und zitterte am ganzen Leib. »Du bist krank, Rose«, stieß sie hervor. Dabei hielt sie die aufgerissene Stelle zusammen und sah mich an, blass und den Tränen nah. »Sieh nur, was du angerichtet hast.«
Wortlos stürzte ich aus dem Zimmer und lief zum Büro von Mrs French. Meine Wangen brannten vor Scham und Zorn, denn Hannah irrte sich: Ich war nicht krank, war keine Lesbe. Ich hatte sie lediglich in diesem Kleid gesehen, festgestellt, wie hübsch sie war, und deshalb wieder an Mrs Carron denken müssen. Und daran, wie anders mein Leben verlaufen würde, wenn ich auch so wäre – hübsch und liebenswert.
Ich stürmte in das Büro, wo Mrs French an ihrem Schreibtisch saß, schnappte nach Luft und rief: »Sie müssen sofort kommen, Mrs French! Hannah hat etwas Schreckliches getan.«
Sie ließ sofort ihren Stift fallen und folgte mir in Kikis Zimmer. Hannah saß auf dem Bett,
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