Die leere Wiege: Roman (German Edition)
schön. Nicht mal eine Frisur hatte ich, meine Haare hingen einfach nur herab. Meine Augen waren grün wie Schlick, und mein Teint war blass. Bestenfalls sah ich unscheinbar aus. So unscheinbar, dass du mir keinen zweiten Blick geschenkt hättest, wärst du nicht so verletzt gewesen. Ich dachte, mein nichtssagendes Äußeres, meine Größe, meine eckigen Bewegungen könnten mir vielleicht dienlich sein. Denn anders als Emma würde ich dich nie wegen eines anderen Mannes verlassen. Schon für das kleinste bisschen Interesse, das du mir entgegenbringen würdest, wäre ich dankbar. Eine Frau wie ich würde dir niemals wehtun können.
Als im Pub die letzte Runde eingeläutet wurde, traten wir schwankend in die kalte Nacht hinaus. Im Hotel nahmen wir den Dienstboteneingang. Ich folgte dir über den Flur, denn genau wie ich früher wohntest du in einer der Kammern, die dem Personal zur Verfügung standen. Ich fand es seltsam, wieder über den Dienstbotenflur zu laufen, über den braunen Nylonteppich, der an den Sohlen haften blieb.
Du warst betrunken. Im Pub hattest du schnell nacheinander fünf große Bier hinuntergestürzt. Du hattest Schwierigkeiten, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber ich unterließ es, dir zu helfen.
Dann hattest du die Tür geöffnet und den Lichtschalter gefunden. Du warfst Schlüssel und Portemonnaie auf den Nachttisch. In dem kleinen Zimmer herrschte ein einziges Chaos, so viel konnte ich gerade noch erkennen, denn die Funzel mit dem geblümten Lampenschirm an der Decke machte kaum Licht. Überall lagen leere Pizzaschachteln herum und zerknüllte Alufolie von Mahlzeiten aus einer Kebabbude. Aus Versehen stieß ich gegen eine Bierdose. Sie fiel um, und das restliche Bier floss über den Fußboden. Du legtest die Stirn in Falten, als sähest du das Zimmer plötzlich mit meinen Augen. Es gab keine Stühle, nur das Bett, auf das man sich setzen konnte. Es war ungemacht, die Bettdecke achtlos zurückgeworfen, das Laken zerknittert. Ich musste mich zwingen, es nicht glattzuziehen. Als du dich bücktest, um die Stereoanlage einzuschalten, kamst du gegen einen Kleiderstapel. Ein paar Sachen rutschten herunter auf den Boden. Ich schickte mich an, sie aufzuheben.
»Lass das!«
Ich erstarrte.
»Ich will nicht, dass du das tust.«
Sofort richtete ich mich wieder auf. Du rafftest Jeans und Hemden zusammen und warfst sie auf den Stapel zurück.
»Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee. Willst du auch einen?«
Ich nickte nur, denn als ich dein Zimmer betrat, hatte ich offenbar die Sprache verloren. Ich war froh, als du hinausgingst, und lauschte deinen Schritten, die in Richtung der Gemeinschaftsküche verklangen.
Dann atmete ich den köstlichen Geruch des Raumes ein. Die Heizung war aufgedreht, und die Wärme intensivierte deinen Geruch. Ich war an Küchengerüche gewöhnt, doch jetzt roch ich ein Gemisch aus Orange und Basilikum, das von deinem Rasierwasser stammte, durchsetzt vom erdigen Geruch deines Schweißes. Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durch das Durcheinander zum Bett, wo der Geruch am stärksten war. Ich strich die Decke glatt, setzte mich auf die Bettkante und beugte mich zum Kopfkissen hinab. Auf dem Kissen lagen ein paar feine rotgoldene Haare. Wie gern hätte ich eins genommen und es mir um den Finger gewickelt.
Ich schaute mich um, denn ich war neugierig und wollte herausfinden, wer du bist. Ich entdeckte eine Gitarre mit einer gerissenen Saite, die an der tragbaren kleinen Stereoanlage lehnte, daneben ein paar CDs auf dem Boden und eine leere Flasche Jack Daniels, in deren Hals ein Kerzenstummel steckte. Das waren die Dinge, die das Zimmer zu deinem Reich machten, ebenso wie die Kleidung und der Rasierapparat auf dem Waschbecken. Der Rest war Müll: Zeitungen, Schachteln, Aluminiumknäuel und leere Bierdosen. Ich nahm dein Portemonnaie vom Nachttisch und klappte es auf. Auf der einen Seite war eine durchsichtige Plastikhülle für den Führerschein, doch du hattest ein Foto dahintergesteckt. Ich zog es heraus. Es zeigte eine Blondine, hübsch und zartgliedrig, in einem weißen Kleid, die einen Blumenstrauß in der Hand hielt. Große haselnussbraune Augen, ein lachender Mund, makellose weiße Zähne: Emma.
Als ich die Küchentür zuschlagen hörte, steckte ich das Foto zurück und legte das Portemonnaie wieder auf den Nachttisch. Ich stellte mir vor, wie ich wohl auf dich wirkte, eine Frau, die nervös auf der Bettkante hockte. Wahrscheinlich würdest du dich
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