Die leere Wiege: Roman (German Edition)
rauchen, ohne auch nur ein einziges Mal husten zu müssen.
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Eines Samstags machten Annie und ich einen Spaziergang. Wie immer schwatzte sie drauflos und hakte sich bei mir unter. »Ich hab mich ein bisschen umgehört, Rose. Im Grand ist eine Stelle frei.«
»Meinst du das große Hotel am Strand?«
»Ja. Wenn du dort arbeitest, bekommst du sogar ein Zimmer. Geh einfach mal hin und erkundige dich. Langsam musst du wieder nach vorn schauen, Schätzchen.«
Auch danach blieb Annie mir treu und holte mich jeden Samstagabend ab. Denn ich nahm die Stelle im Grand an und vergaß meine Träume, an einer Universität zu studieren. Der Lohn war gering, aber dafür hatte ich freie Unterkunft und Verpflegung. Anfangs arbeitete ich im Grand als Kellnerin, aber als die Gäste sich beschwerten, ich würde nie lächeln, setzten sie mich als Zimmermädchen ein.
Heute bin ich für diese Zeit dankbar, für das, was ich im Grand gelernt habe. Anfangs war alles neu für mich, auch mein Zimmer im Dienstbotentrakt, das ich mit Tante Ritas Möbeln einrichtete. Meinen kostbarsten Besitz, das Amselnest, hob ich in einer Schublade auf.
Dann und wann denke ich an die verblichene Eleganz des Grand zurück, an das Gebäude aus der Zeit König Eduards, die große Treppe, die sich von der Empfangshalle aus in die Höhe schwang, die Küche mit der Einrichtung aus Stahl, die Töpfe und Pfannen, die von einem Balken herabhingen. Im Geist höre ich dann Wasser, das sprudelnd überkocht, Fritten, die in Öl brutzeln, und rieche den Räucherhering, der morgens zubereitet wurde. Und ich denke an dich, Jason. Wie du gelächelt hast, als wärst du gerade wach geworden, die geschmeidigen Bewegungen deines schlanken, hochgewachsenen Körpers. Wie dein Haar immer zurückgebunden war und sich daraus rotgoldene Kringel lösten.
Du bist in mein Leben getreten und hast alles verändert.
16.
Überlebende erkennen einander, erkennen das Versehrte in dem anderen. Als ich dich zum ersten Mal sah, wusste ich, dass dich etwas schmerzt.
Mein Herz war dabei zu heilen. Zwar litt ich noch immer unter dem Tod meiner Mutter und vermisste Tante Rita, aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie immer bei mir waren. Mitunter vergaß ich, dass sie jetzt Geister waren, und stellte einen Teller für sie auf den Tisch oder zwei Kaffeebecher statt einem. Auch nach ihrem Tod redete ich noch mit ihnen. Tatsächlich fühlte ich mich Rita und Mum in der Geisterwelt näher als meinem Vater und meinem Bruder, die nur eine Stunde Fahrtzeit weiter nördlich an der Küste lebten.
Nach Lowestoft kehrte ich nie zurück, aber ich wusste, dass Peter inzwischen den Laden führte. Manchmal fragte ich mich, ob er immer noch Süßigkeiten aus den Gläsern naschte oder ob er seiner Zuckersucht inzwischen entwachsen war. Dad und Mrs Carron wohnten in seiner Nähe in einem Bungalow und halfen gelegentlich im Laden aus. Peter war verheiratet. Die Trauung finde im kleinen Kreis statt, schrieb er mir auf einem einfachen Blatt Papier. Er lud mich zu der anschließenden Feier ein, aber ich fuhr nicht hin.
Ich will dich nicht langweilen. Wahrscheinlich findest du die Geschichten über mich, ehe du in mein Leben getreten bist, total öde. Trotzdem muss ich sie für dich aufschreiben, mein lieber Jason, denn es gibt noch viel zu erzählen. Ich darf keine Zeit verlieren. Also weiter im Text.
Mit der Zeit gehörte ich zum Grand, als wäre ich ein Teil der Einrichtung. Es gab Gäste, die mich für mürrisch oder unhöflich hielten, aber sie konnten mir nichts anhaben, denn ich machte meine Arbeit gut. Nicht einen einzigen Tag meldete ich mich krank, und es machte mir auch nichts aus, über Weihnachten zu arbeiten. Ich war ein gutes Zimmermädchen und mochte meine Arbeit. Es gefiel mir, die Zimmer hübsch und ordentlich herzurichten, die wechselnden Kleidungsstücke in den Schränken zu betrachten und über die Gäste nachzudenken, ihre seltsamen Lebensweisen, ihr unbekanntes Leben.
Ich habe nie etwas gestohlen. Nur manchmal nahm ich eine Parfumflasche von einem Toilettentisch und bestäubte mein Handgelenk ein wenig mit dem Duft. Oder ich warf einen kleinen Blick in einen Koffer. Es war reine Neugier, und wer an meiner Stelle hätte die nicht verspürt? Hier und da beschwerten sich Gäste über umgeräumte Schmuckschatullen oder falsch sortierte Unterwäsche, doch niemand nahm so etwas ernst. Jedes Zimmermädchen schnüffelt herum, das ist nur natürlich. Es machte
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