Die leere Wiege: Roman (German Edition)
winziger Schlauch war an seiner Wange befestigt und führte in ein Nasenloch. Mein Herz pochte wie wild, und ich konnte kaum atmen.
»Er ist so schrecklich klein«, flüsterte ich.
»Ja schon, aber Babys sind erstaunlich. Viel zäher, als man denkt.« Nurse Hall legte mir eine Hand auf die Schulter und hob die Karte an, die an dem Brutkasten steckte. »Er wiegt knapp über vier Pfund. Ihr Baby muss zunehmen. Was meinen Sie, sollen wir Ihnen ein wenig Milch abpumpen?«
Sie deutete auf ein großes Gerät in der Ecke mit zwei Schläuchen, die in Saugnäpfen endeten. Ein solches Gerät hätte ich eher in einem Kuhstall als in einem Krankenhaus erwartet.
»Sollen wir es mal versuchen? Je früher, desto besser.«
Das Gerät hieß Daisy. Es war ein typischer Name für eine Kuh, nur für den Fall, dass eine Mutter nicht wusste, welche Rolle sie hier spielte. Nurse Hall schob mich zu dem Gerät, hob meinen Krankenhauskittel hoch und entblößte meine Brüste. Über jede stülpte sie einen Saugnapf, und das Gerät zapfte mir die Milch abwechselnd aus beiden Brüsten. Über das Stillen hatte ich bisher nichts gelesen, hatte gedacht, dazu hätte ich noch Zeit.
Nurse Hall redete beruhigend auf mich ein. »Schauen Sie Ihr Baby an. Das wird Ihre Milchdrüsen stimulieren. So ist’s gut. Braves Mädchen.«
Während ich gemolken wurde, konzentrierte ich mich auf meinen Sohn und wünschte, er läge statt der Saugnäpfe an meiner Brust.
»Das, was Sie jetzt produzieren, nennt man Kolostrum. Schauen Sie nur, wie gelb die Milch ist. Sie ist sehr reichhaltig und gibt Ihrem Baby alles, was es zurzeit braucht. Es wird nicht viel zu sich nehmen, denn sein Magen ist kaum größer als eine Weintraube.« Sie füllte die Milch in eine Spritze. »Wir dürfen ihn momentan nicht anstrengen, deshalb wird er im Moment noch über eine Magensonde ernährt. Nach und nach stellen wir ihn dann auf die Flasche um, und wenn er kräftiger ist, dürfen Sie ihn sogar stillen.«
Sie hob meinen Sohn aus dem beheizten Brutkasten, schlug ihn rasch in eine Wolldecke ein und reichte ihn mir. Er war so leicht wie ein winziger Vogel und verschwand beinah ganz in seiner Windel. Auf dem Köpfchen wuchsen feine blonde Härchen.
Nurse Hall und ich fütterten ihn gemeinsam. Sie steckte die Spritze in ein Verbindungsstück des Schlauchs und drückte sachte ein paar Tropfen heraus, die wie Tränen aussahen. Mein Baby schien kaum etwas anzunehmen, aber Nurse Hall war zufrieden.
»Haben Sie schon einen Namen für ihn?«, fragte sie.
»Joel fände ich schön.«
»Joel.« Nurse Hall lächelte. »Ich glaube, das passt zu ihm.«
Mit einem Mal war mir nichts wichtiger, als meinem Baby einen Namen und damit eine Identität zu geben, fast, als hinge sein Leben davon ab. Ich schaute in sein Gesicht und sagte erstmalig seinen Namen. Joel. Mein Sohn.
27.
Cate hatte sich entschlossen, Pauls Einladung anzunehmen. Schon kurz nach drei Uhr nachmittags verließ sie ihre Wohnung. Dann würde sie zwar zu früh auf der Party erscheinen, aber sie wusste einfach nicht, wie sie sich länger die Zeit vertreiben sollte. Paul wohnte am Acacia Way, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Wenig später hatte sie die Straße gefunden, stieg aus dem Wagen und ging auf das schlichte Doppelhaus zu, dessen eine Hälfte er bewohnte. Das Haus wirkte neu, doch die wild wuchernden Bäume und Sträucher im Vorgarten schienen schon vor langer Zeit gepflanzt worden zu sein. Die Eingangstür war leuchtend gelb gestrichen und hob sich von denen der konservativeren Nachbarn ab.
Cate drückte auf die Klingel und versuchte sich krampfhaft an den Namen von Pauls Partner zu erinnern. Irgendetwas Gleichgeschlechtliches war es gewesen. Nicky oder Jo. Ein gut aussehender Mann mittleren Alters öffnete die Tür. Er war lässig gekleidet, in Shorts und Leinenhemd. In der Hand hielt er eine Gartenschere.
»Ich weiß, ich komme zu früh«, begann sie. »Mein Name ist Cate Austin.«
Er reichte ihr eine manikürte Hand. »Willkommen. Ich bin Sam. Paul hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
Er strahlte etwas Gesundes, Fröhliches aus, hatte drahtiges dunkles Haar und warme braune Augen. Wie ein kleiner Dackel, dachte Cate und mochte ihn auf der Stelle.
Sam führte sie über einen Flur mit makellos cremefarbenem Läufer und durch eine Küche im Shaker-Stil, erbsengrün gestrichen und gefliest. Die Kücheninsel hatte eine Platte aus Granit. Darauf warteten bereits Wein- und Sherryflaschen und mit
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