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Die Legende

Die Legende

Titel: Die Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marthens
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als Erster aus seiner Erstarrung und lief zu ihr, um sie von dem Fürsten wegzuzerren. Der wehrte sich mit seinen Händen gegen die Messerstiche, konnte aber nur wenig ausrichten. Er blutete bereits aus unzähligen Wunden im Gesicht, in der Brust, an den Händen und Armen. Er sah aus wie ein lebendes Sieb, aus dem roter Saft tropfte. Und Isa ließ nicht von ihm ab, nicht einmal mein Vater konnte sie bändigen. Als er sie abhalten wollte, stach sie auch nach ihm und er wich schnell zurück.
Jetzt musste ich etwas tun. Ich sah Viviane an, wir hatten denselben Gedanken und nickten uns zu.
    »Alle raus hier!«, rief ich den Gästen zu, die entsetzt und erstarrt das Geschehen beobachteten. Als ich ihnen zurief, dass es besser wäre, abzuhauen, um nicht in die Sache verwickelt zu werden, schnappten sie sich ihre Siebensachen und verließen hastig das Zimmer. Meine Mutter wollte sich um Isabelle kümmern, die immer noch auf den Fürsten einstach, obwohl der mittlerweile zu Boden gesunken war und sich nicht mehr rührte. Doch ich lief zu ihr und zerrte sie zur Tür. »Raus hier, Mama!«, rief ich. »Schnell!«
    Sie protestierte, doch dann gehorchte sie. Bei meinem Vater war es schwieriger, er ging erst, als meine Schwester schluchzend neben ihrem Opfer auf dem Boden hockte und offenbar keine Kraft mehr hatte, das Messer zu heben. Er nahm sie in die Arme und trug sie hinaus in die Nacht. Endlich waren Viviane und ich alleine bei dem Sterbenden. Um ihn hatte sich eine riesige rote Lache gebildet, die sich unaufhörlich vergrößerte. Er lag ruhig da, bleich und matt, seine Hände zitterten leicht, aber seinen Mund umspielte ein Lächeln.
    »Das ist nicht das Ende«, murmelte er.
    »Für den Körper schon«, erwiderte Viviane ungerührt. »Und für dich als Mensch auch.«
    Dann nahm sie meine Hand. Mir war extrem mulmig zumute. Was, wenn der Wiedergänger in meinen Körper kroch? Oder in den von Viviane? Es war weit und breit kein Tier zur Hand, in das er hätte schlüpfen können. Was, wenn er nach draußen gelangen und den Körper irgendeines Mullendorfers in Besitz nehmen würde? Ich musste zugeben, der Plan war fehlgeschlagen. In diesem Augenblick war ich froh über Vivianes Zuversicht und Stärke, die sie ausstrahlte. Ich klammerte mich einfach an ihre Hand und lauschte auf die Beschwörungen, die sie murmelte. Ich hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten, sie redete in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Und dann sah ich ihn. Sie starrte ihn die ganze Zeit an, fixierte ihn mit ihrem Blick, während sie mit ihrer freien Hand dem Fürsten die Nase zuhielt. Es war ein Käfer, ein fetter, glänzender Mistkäfer, der über den Fußboden krabbelte und den Komposthaufen suchte. Er hatte keine Ahnung, welches Schicksal auf ihn wartete, er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. – Und dann geschah es. Aus dem Mund des Sterbenden wich ein Lufthauch, er sah aus wie ein Nebel, der sich zu einer Fratze verzerrte. Ich hielt instinktiv den Atem an und schloss den Mund. Der Nebel flackerte in der Luft, zitterte leicht und wollte sich auf mich und Viviane stürzen. Doch in diesem Moment sprach meine Freundin mehrere Worte in dieser fremden Sprache, und der Nebel wich wieder zurück. Er flimmerte hin und her, als wisse er nicht, wohin er sich wenden sollte. Danach erhob er sich und schwebte auf die Tür zu, doch Vivianes Worte holten ihn wieder zurück. Sie pustete ihn in Richtung Käfer, der ahnungslos einem Blutstropfen auf dem Boden auswich. Ich konnte sehen, wie der fratzenartige Nebel in Pein das Gesicht verzerrte und aufschrie, es war ein feiner, dünner Ton zu hören, dann waberte er panisch über den Boden, bis er den Käfer erblickte. Er unternahm noch einen Versuch, sich auf mich zu stürzen, doch Viviane verhinderte es erneut. Da stieß er herab und verschwand in dem Käfer.
    Schnell schüttelte Viviane meine Hand ab und rannte zum Tisch, von dem sie ein Glas nahm und über den Käfer stülpte.
    Der kleine Kerl drehte sich auf einmal im Kreis, flatterte aufgeregt mit den Flügeln, knallte jedoch immer wieder gegen das Glas. Er fiel auf den Rücken, strampelte panisch mit den Beinchen und schaffte es auch, wieder auf allen Sechsen zu landen. Dann begann das Kreiseln von neuem, doch dieses Mal schon schwächer. Das nächste Flattern brachte ihn bis zur Glasdecke, von wo er auf den Boden stürzte. Wieder landete er auf dem Rücken und strampelte. Doch nun schaffte er es nicht mehr, sich aufzurappeln. Das Strampeln

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