Die Legende
wurde immer langsamer. Irgendwann hörte es auf. Der Käfer lag da. Still und tot. Genau wie der menschliche Körper neben ihm.
Ich sah zu Viviane, die das ganze Treiben fasziniert beobachtet hatte. Sie wirkte so cool und ungerührt, als würde sie jemandem beim Kuchenbacken zusehen.
»Er ist tot«, sagte ich schließlich.
Sie nickte und erhob sich. »Dein Problem ist gelöst.«
Ich sah zum Fenster hinaus und hatte erwartet, dort die Gäste herumstehen zu sehen, doch da war niemand mehr. Nur meine Mutter und mein Vater saßen auf einer Bank im Garten. Ich blickte auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. Die Aktion mit dem Käfer hatte offenbar viel länger gedauert, als ich dachte.
»Was machen wir mit der Leiche?«, fragte ich.
»Das ist euer Problem«, sagte meine Freundin kurz angebunden, dann ging sie zur Tür hinaus. »Gute Nacht«, wünschte sie mir noch, bevor sie verschwand.
Wow, dachte ich. Was für ein kühler Abgang. Doch ich sagte nichts. Sie hatte tatsächlich unser Problem gelöst. Dennoch hatte ich ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Es war zu leicht gewesen. Wenn es wirklich so einfach war, diesen Wiedergänger loszuwerden, wieso hatte es nicht schon Jahrhunderte früher jemand getan?
Es ergab sich keine Gelegenheit, den Gedanken weiterzuführen, denn meine Eltern traten ein. Dass ich dieses Wort »Eltern« mal so verwenden würde, hätte ich auch nie gedacht. Für mich hatte es immer nur meine Mutter gegeben, das Wort »Eltern« existierte in meinem Wortschatz eigentlich gar nicht. Aber die beiden jetzt plötzlich so harmonisch nebeneinander zu sehen, erfüllte mich, trotz der ganzen Misere, mit einem angenehmen Gefühl.
Meine Mutter beratschlagte kurz mit mir und meinem Vater, was nun zu tun sei, dann ging jeder seiner zugeteilten Aufgabe nach. Ich kümmerte mich um den Kadaver des Käfers. Das war wirklich schnell erledigt. Einfach im Klo runtergespült und fertig.
Meine Eltern hingegen fingen an, im Garten neben dem Komposthaufen ein tiefes Loch zu graben. Nach der Käferentsorgung half ich ihnen dabei, zu dritt ging es schneller. Zudem war ich glücklich, dass sich die beiden plötzlich so gut verstanden. Auch wenn das vermutlich dem Einfluss des Dämons zuzuschreiben war, so fand ich es trotzdem unheimlich beruhigend. In mir regte sich sogar so etwas wie Familiensinn, als ich in die Küche ging und für uns alle Kaffee kochte.
Etwa drei Stunden später war die Leiche in der Erde verschwunden und wir drei Lebenden schmutzig und völlig durchgeschwitzt. Meine Mutter rief noch schnell Isabelle an, die erst einmal in Moosberg bei ihren Freundinnen bleiben sollte, dann sprang sie unter die Dusche. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit meinem Vater über den Dämon zu sprechen.
»Was weißt du darüber?«, fragte ich ihn.
Mein Vater wiegte nachdenklich den Kopf. »Leider nicht viel. Es war der Fürst, der ununterbrochen von ihm gesprochen hat. Ich wurde nur engagiert, um ihm zu sagen, was passieren wird.«
»Also bist du tatsächlich jemand, der Visionen hat?«
Er nickte. »Ein Seher. Schon seit vielen Jahren.«
»Wann sind die Visionen gekommen? Nach einen Unfall?«
»Nein, ich habe sie bekommen, als mein Vater starb. Mein biologischer Vater. Ich wurde adoptiert, ich weiß nicht, ob du das wusstest.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Meine leibliche Mutter war die Tochter eines angesehenen Anwalts in Gallburg. Als sie sich von meinem Vater, einem Jahrmarktskünstler schwängern ließ, wollte ihr Vater das Kind auf keinen Fall im Hause dulden. Bei meinen Eltern hingegen handelte es sich um kinderlose Bauern hier in Mullendorf, die wegen einer Klage mit dem Anwalt zu tun hatten. Sie erfuhren von der Misere und baten ihn, das Kind adoptieren zu dürfen. Er war einverstanden unter der Bedingung, dass sie aus Mullendorf und Umgebung wegzogen, damit meine leibliche Mutter nicht versucht wäre, mich sehen zu wollen. Wir zogen in den Süden, erst als ich achtzehn war, haben sie mir von meiner Herkunft erzählt. Da bin ich nach Mullendorf gereist und habe gleich am ersten Tag deine Mutter kennengelernt.« Er lächelte in Erinnerungen versunken.
»Woher weißt du, dass dein Vater Hellseher war?«
»Ich habe meine leibliche Mutter aufgesucht, sie erzählte mir, dass er auf dem Jahrmarkt sein Geld damit verdient hätte, den Leuten Dinge zu sagen, die er unmöglich wissen konnte. Auch ihn habe ich ausfindig gemacht und mit ihm gesprochen. Um ehrlich zu sein, er wollte nicht viel von mir wissen. Er
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