Die Legende
eigentlich doppelt so hoch sein. Und die Disziplin ist auch nicht mehr, was sie einmal war.«
»Weshalb?«
»Weil sie alle auf den Tod warten«, sagte sie mit Zorn in der Stimme. »Weil mein Vater krank ist – er liegt im Sterben. Und weil Gan Orrin das Herz einer reifen Tomate hat.«
»Orrin? Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Abalayns Neffe. Er befehligt die Truppen, aber er ist nutzlos. Wenn ich ein Mann wäre …«
»Ich bin froh, daß du keiner bist«, warf er ein.
»Warum?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er lahm. »Nur, um etwas zu sagen … ich bin einfach froh, daß du kein Mann bist, das ist alles.«
»Jedenfalls würde ich die Truppen befehligen, wenn ich ein Mann wäre. Ich hätte es viel besser gemacht als Orrin. Warum starrst du mich so an?«
»Ich starre nicht, ich höre dir zu, verdammt noch mal. Warum mußt du mich immer so unter Druck setzen?«
»Soll ich das Feuer anzünden?« fragte sie.
»Warum? Bleiben wir noch so lange?«
»Wenn du willst.«
»Das überlasse ich dir«, sagte er.
»Dann laß uns heute hier bleiben. Das ist alles. Das gibt uns etwas Zeit, um uns … vielleicht besser kennenzulernen. Wir haben es ziemlich schlecht angefangen. Und du hast mir dreimal das Leben gerettet.«
»Einmal«, widersprach er. »Ich glaube nicht, daß du an der Kälte gestorben wärst, dafür bist du zu kräftig. Und Grussin hat uns beide gerettet. Na ja, ich hätte schon Lust, heute hier zu bleiben. Aber ich warne dich, ich habe nicht vor, wieder auf dem Fußboden zu schlafen.«
»Das brauchst du auch nicht.«
Der Abt lächelte über die Verlegenheit des jungen Albinos. Er löste seine Hände von dem geistigen Halt und ging zurück zu seinem Schreibtisch. »Komm zu mir, Serbitar«, sagte er laut. »Bereust du deinen Eid des Zölibats?«
»Manchmal«, antwortete der junge Mann und erhob sich von den Knien. Er klopfte sich den Staub von dem weißen Gewand und setzte sich dem Abt gegenüber.
»Das Mädchen ist würdig«, sagte Serbitar. »Der Mann ist ein Rätsel. Wird ihre Kraft nachlassen, wenn sie sich lieben?«
»Im Gegenteil«, antwortete der Abt. »Sie brauchen einander. Erst gemeinsam sind sie vollständig, wie in dem Heiligen Buch. Erzähl mir von ihr.«
»Wie könnte ich das?«
»Du warst in ihrem Geist. Erzähl mir von ihr.«
»Sie ist die Tochter eines Grafen. Als Frau hat sie kein Selbstvertrauen. Und sie ist das Opfer gemischter Wünsche.«
»Warum?«
»Das weiß sie nicht«, wich er aus.
»Das ist mir klar. Weißt du warum?«
»Nein.«
»Was ist mit dem Mann?«
»Ich war nicht in seinem Geist.«
»Nein. Aber was ist mit dem Mann?«
»Er hat große Ängste. Er hat Angst zu sterben.«
»Ist das eine Schwäche?« fragte der Abt.
»In Dros Delnoch wird es eine sein. Der Tod ist dort fast gewiß.«
»Ja. Aber kann es eine Stärke sein?«
»Ich wüßte nicht wie«, antwortete Serbitar.
»Was sagt der Philosoph über Feiglinge und Helden?«
»Der Prophet sagt: ›Dem Wesen der Definition nach ist nur der Feigling der größten Heldentaten fähig.«
»Du mußt die Dreißig zusammenrufen, Serbitar.«
»Muß ich die Führung übernehmen?«
»Ja. Du sollst Die Stimme der Dreißig sein.«
»Aber wer werden meine Brüder sein?«
Der Abt lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Arbedark wird das Herz sein. Er ist stark, furchtlos und wahrhaftig. Es kann niemand anders sein. Menahem wird die Augen sein, denn er ist begabt. Ich werde die Seele sein.«
»Nein!« widersprach der Albino. »Das geht nicht. Meister, ich kann dich nicht führen.«
»Aber du mußt. Du wirst über die anderen entscheiden. Ich werde auf deine Entscheidungen warten.«
»Warum ich? Warum muß ich der Anführer sein? Ich sollte die Augen sein. Arbedark sollte uns führen.«
»Vertrau mir. Alles wird enthüllt werden.«
»Ich wurde in Dros Delnoch aufgezogen«, erzählte Virae Rek, als sie vor dem flackernden Feuer lagen. Sein Kopf ruhte auf seinem zusammengerollten Umhang, ihr Kopf lag auf seiner Brust. Er strich ihr übers Haar, ohne etwas zu sagen. »Es ist ein majestätischer Ort. Warst du schon einmal dort?«
»Nein. Erzähl mir davon.« Er wollte eigentlich nichts darüber hören, aber er mochte auch nicht reden.
»Die Stadt hat sechs äußere Mauern, jede von ihnen über sechs Meter dick. Die ersten drei Mauern hat Egel, der Bronzegraf, gebaut. Aber dann wuchs die Stadt, und mit der Zeit wurden drei weitere Mauern errichtet. Die ganze Festung überspannt den Delnoch-Paß. Mit
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