Die Legende
Mittel, um eine Legende zu schaffen. So hatte er jedenfalls gesagt. Sie würden ein Stachel in Abalayns Seite sein, bis ihnen Gerechtigkeit widerfahren war. Und jetzt dauerte es schon zehn Jahre. Zehn elende, blutige Jahre.
Und hatte es je eine Rechtfertigung dafür gegeben?
Grussin hoffte es.
»He, kommst du?« fragte Reinard von der Tür her. »Sie sind in der alten Hütte.«
Es war ein langer Marsch gewesen und bitterkalt, doch Reinard hatte es kaum gespürt. Zorn erfüllte ihn mit Wärme, und die Aussicht auf Rache kräftigte seine Muskeln, so daß die Kilometer nur so dahinflogen.
Seine Gedanken waren voller Bilder von süßer Rache und der Musik von Schreien. Er würde die Frau zuerst nehmen und sie dann mit einem glühenden Messer schneiden. Erregung strömte warm durch seine Lenden.
Und was Rek anging … Er wußte, wie Rek aussehen würde, wenn er sie kommen sah.
Entsetzen. Entsetzen, das den Geist lähmte und die Eingeweide verkrampfte.
Doch er irrte sich.
Rek war wütend und bebend aus der Hütte getreten. Die Verachtung auf Viraes Gesicht war kaum zu ertragen. Nur Zorn konnte sie fortwischen. Und auch das nur mühsam. Er konnte nichts dafür, was er war und wer er war. Manche Männer sind nun mal zum Helden geboren. Andere zum Feigling. Welches Recht hatte sie, ihn zu verurteilen?
»Regnak, mein Lieber! Stimmt es, daß du eine Frau da drin hast?«
Reks Augen überflogen die Gruppe. Mehr als zwanzig Männer standen im Halbkreis hinter dem großen, breitschultrigen Anführer der Gesetzlosen. Neben ihm stand Grussin, der Axtkämpfer, riesig und kräftig, die doppelschneidige Axt in der Hand.
»Morgen, Rein«, sagte Rek. »Was führt dich her?«
»Ich hörte, du hättest eine warme Bettgenossin und dachte: ›Der gute alte Rek hat bestimmt nichts dagegen, sie zu teilen.‹ Und ich möchte dich in mein Lager einladen. Wo ist sie?«
»Sie ist nicht für dich, Rein. Aber ich biete dir etwas anderes an. Eine Karawane Richtung …«
»Vergiß die Karawane!« rief Reinard. »Bring einfach die Frau heraus.«
»Gewürze, Juwelen, Pelze. Es ist eine große Karawane«, sagte Rek.
»Davon kannst du mir unterwegs erzählen. Ich verliere langsam die Geduld. Bring sie heraus!«
Reks Zorn flammte auf, sein Schwert fuhr aus der Scheide.
»Dann komm her und hol sie dir, du Bastard!«
Virae trat aus der Tür und stellte sich neben ihn, die Klinge in der Hand, als die Gesetzlosen ihre Waffen zogen und näherrückten.
»Wartet!« befahl Reinard mit erhobener Hand. Er trat vor und zwang sich zu einem Lächeln. »Jetzt hör mir mal zu, Rek. Das ist doch sinnlos. Wir haben nichts gegen dich. Du warst immer ein Freund. Und was bedeutet dir diese Frau? Sie hat meinen Bruder getötet. Du siehst also, es ist eine Frage der persönlichen Ehre. Steck dein Schwert weg, und du kannst gehen. Aber ich will sie lebendig.« Und dich auch, dachte er.
»Wenn du sie willst, dann hol sie dir!« rief Rek. »Und mich dazu. Komm schon, Rein. Du weißt doch noch, wofür ein Schwert da ist? Oder willst du tun, was du sonst auch immer tust? Dich zwischen die Bäume zurückziehen, während deine Männer für dich das Sterben übernehmen? Dann lauf, du Wurm!« Rek sprang vor, und Reinard wich rasch zurück und stolperte gegen Grussin.
»Tötet ihn – aber nicht die Frau!« befahl er. »Ich will diese Frau.«
Grussin trat vor, die Axt schwang an seiner Seite. Virae kam näher und stellte sich neben Rek. Der Axtkämpfer blieb zehn Schritt vor dem Paar stehen. Er sah Rek in die Augen: kein Anzeichen von Wanken oder Weichen. Er schaute die Frau an. Jung, hochgewachsen – nicht schön, aber eine gutaussehende Frau.
»Worauf wartest du, du Hornochse!« schrie Rek. »Hol sie dir endlich!«
Grussin machte kehrt und ging zurück zu der Gruppe. Ein Gefühl der Unwirklichkeit packte ihn. Er sah sich wieder als jungen Mann, der auf seinen ersten Besitz sparte. Er besaß einen Pflug, der seinem Vater gehört hatte, und die Nachbarn wollten ihm helfen, nahe einem Ulmenwäldchen ein Haus zu bauen. Was hatte er nur mit all den Jahren gemacht?
»Du Verräter!« brüllte Reinard und fuchtelte mit seinem Schwert.
Grussin parierte den Hieb mühelos. »Vergiß es, Rein. Laß uns nach Hause gehen.«
»Tötet ihn!« befahl Reinard. Die Männer sahen einander an; einige rückten vor, andere zögerten. »Du Bastard! Du verräterisches Stück Dreck!« schrie Reinard und holte erneut aus. Grussin nahm einen tiefen Atemzug, griff seine Axt mit
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