Die Legende
Geschichten. Ach, Virae, mein kleiner Liebling! Du wirst nie verstehen, was es für mich bedeutet hat, einfach nur dein Vater zu sein …« Druss senkte den Kopf, als der alte Graf mit dünner, zittriger Stimme weiterredete. Hogun biß die Zähne zusammen und schloß die Augen. Calvar Syn saß zusammengesunken in einem Lehnstuhl, und Orrin stand an der Tür und dachte an den Tod seines eigenen Vaters vor so vielen Jahren.
»Wir waren viele Tage lang am Paß und hielten allem stand, was sie uns entgegenwarfen: den Stämmen, Wagen, Infanterie, Kavallerie. Aber immer hing die Drohung der Unsterblichen über uns. Noch nie besiegt! Der alte Druss stand inmitten unserer vordersten Front, und als die Unsterblichen auf uns zumarschierten, erstarrten wir. Du konntest die Panik geradezu mit Händen greifen. Ich wollte weglaufen, und ich konnte sehen, wie sich derselbe heiße Wunsch in den Gesichtern der anderen widerspiegelte. Dann hob der alte Druss seine Axt hoch in die Luft und schrie den vorrückenden Reihen etwas zu. Es war großartig. Fast magisch. Der Bann wich von uns. Die Angst verging. Er hob seine Axt, damit die Männer sie sehen konnten, und dann brüllte er. Ich höre es jetzt noch: ›Kommt her, ihr dickbäuchigen Hurensöhne! Ich bin Druss, und das ist der Tod!‹
Virae? Virae? Ich habe auf dich gewartet … Nur noch einmal. Dich sehen. So sehr … so sehr gewünscht.« Der abgemagerte Körper zitterte, dann lag er still. Druss schloß dem Toten die Augen und wischte sich mit der Hand über die eigenen.
»Er hätte sie nie fortschicken dürfen«, sagte Calvar Syn. »Er liebte das Mädchen. Sie war alles, wofür er lebte.«
»Vielleicht hat er sie deswegen geschickt«, sagte Hogun.
Druss zog das seidene Laken über das Gesicht des Grafen und ging zum Fenster. Jetzt war er allein – der letzte Überlebende von Skeln. Er lehnte sich gegen die Fensterbank und atmete tief die Nachtluft ein.
Draußen badete der Mond die Dros in zauberisches Licht, grau und geisterhaft, und der alte Mann sah nach Norden. Eine Taube flatterte heran und umkreiste eine Dachkammer unterhalb der Festung. Sie war von Norden gekommen.
Er drehte sich wieder um. »Begrabt ihn morgen in aller Stille«, sagte er. »Wir werden wegen der Begräbnisfeierlichkeiten die Übungen nicht unterbrechen.«
»Aber Druss, das ist Graf Delnar!« widersprach Hogun mit funkelnden Augen.
»Das«, sagte Druss und deutete auf das Bett, »ist ein krebszerfressener Leichnam. Es ist niemand mehr. Tut, was ich sage.«
»Du kaltherziger Dreckskerl!« rief Dun Mendar.
Druss warf dem Offizier einen eisigen Blick zu. »Vergiß das nicht, mein Freund, an dem Tag, an dem du – oder sonst einer von euch – sich gegen mich wendet.«
12
Rek lehnte an der Steuerbordreling, einen Arm um Viraes Schultern gelegt, und starrte aufs Meer hinaus. Seltsam, dachte er, wie die Nacht alles verändert. Ein unendlich erscheinender Spiegel, der das Licht der Sterne reflektiert, während der Zwilling des Mondes, in Facetten zerlegt und ätherisch, in einiger Entfernung von ihnen trieb. Immer ein, zwei Kilometer entfernt. Eine sanfte Brise blähte das dreieckige Segel der Tunichtgut, die sich einen weißen Pfad durch die Wellen bahnte und leise mit der Dünung schaukelte. Achtern stand der Maat am Ruder; seine silberne Augenklappe glänzte im Mondlicht. Im Bug warf ein junger Seemann das Lot in die Wellen und rief die wechselnden Tiefen nach achtern, als sie über ein verborgenes Riff fuhren. Alles war Ruhe, Frieden und Harmonie. Das ständige Plätschern der Wellen erhöhte noch das Gefühl der Einsamkeit, das Rek umhüllte, als er aufs Meer schaute. Sterne oben und unten. Sie könnten geradesogut auf den Fluten der Galaxis treiben, weit weg von den allzu menschlichen Plagen, die auf sie warteten.
Das ist Zufriedenheit, dachte Rek.
»Was denkst du gerade?« fragte Virae und schlang einen Arm um seine Hüften.
»Ich liebe dich«, sagte er. Ein Delphin glitt an ihnen vorbei und rief ihnen einen musikalischen Gruß zu, ehe er wieder in den Tiefen verschwand. Rek beobachtete, wie die geschmeidige Gestalt inmitten der Sterne schwamm.
»Ich weiß, daß du mich liebst«, sagte Virae. »Ich habe dich gefragt, was du gerade denkst.«
»Ich bin bei dir. Ich bin zufrieden. Ich fühle mich friedlich.«
»Natürlich. Wir sind auf einem Schiff, und es ist eine schöne Nacht.«
»Virae, du hast keine Seele«, sagte er und küßte sie auf die Stirn.
Sie sah zu ihm auf und lächelte.
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