Die Legende
ignorierte den Gan, bis auf eine Ausnahme, als er ihn über die Brustwehr zog, weil er abzustürzen drohte. »Laß ihn doch fallen«, rief ein Mann, der ein Stück weiter kletterte.
Orrin biß die Zähne zusammen und machte weiter. Er blieb den ganzen Tag bei der Gruppe und arbeitete sogar beim Abbruch der Häuser mit. Am Nachmittag war er nur noch halb so schnell wie die anderen. Niemand hatte bis jetzt ein Wort mit ihm geredet. Er aß abseits von den anderen, wenn auch nicht freiwillig – wo er sich hinsetzte, wollte kein anderer hin. Bei Einbruch der Dunkelheit machte er sich auf den Weg in seine Unterkunft. Sein Körper zitterte, die Muskeln brannten. Er schlief in der Rüstung ein.
Im Morgengrauen badete er, legte die Rüstung an und schloß sich wieder Gruppe Karnak an. Nur bei den Schwertübungen tat er sich hervor, aber selbst dabei hatte er fast den Eindruck, die Männer ließen ihn gewinnen. Und wer konnte es ihnen übelnehmen?
Eine Stunde vor Sonnenuntergang kam Druss mit Hogun und befahl vier Gruppen, sich am Tor von Mauer Zwei einzufinden: Karnak, Schwert, Egel und Feuer.
Von der Brustwehr herab rief Druss den zweihundert Männern zu: »Nur ein kleines Rennen, um eure Muskeln zu strecken, Jungs. Von diesem Tor sind es anderthalb Kilometer, eine ganze Runde. Ihr werdet zweimal laufen. Die Gruppe des letzten läuft noch einmal. Los!«
Als alle auf einmal drängelten und losliefen, beugte Hogun sich vor.
»Verdammt!« sagte er.
»Was ist los?« fragte Druss.
»Orrin. Er läuft mit ihnen. Ich dachte, er hätte von gestern noch genug. Was ist mit dem Mann los? Ist er verrückt?«
»Du läufst doch auch mit den Männern«, sagte Druss. »Warum nicht auch er?«
»Ach, komm, Druss, was ist denn das für eine Frage? Ich bin Soldat und trainiere jeden Tag. Aber er! Sieh ihn dir an – er ist jetzt schon Letzter. Also wirst du den Vorletzten die Runde noch einmal laufen lassen, nicht wahr?«
»Das kann ich nicht, mein Freund. Das würde Orrin beschämen. Er hat seine Entscheidung selbst getroffen, und ich nehme an, daß er seine Gründe hat.«
Nach dem ersten Kilometer lag Orrin dreißig Meter hinter dem letzten Mann und hatte schwer zu kämpfen. Er heftete seinen Blick fest auf den Rücken des Mannes und lief weiter, ohne auf die Schmerzen in seiner Seite zu achten. Schweiß brannte ihm in den Augen, und sein Helm fiel ihm vom Kopf. Es war eine Erleichterung. Nach zwei Kilometern lag er vierzig Meter zurück. Gilad warf aus der führenden Gruppe einen Blick zurück, machte kehrt und lief leichtfüßig zurück zu dem atemlosen Gan. Sobald er bei ihm war, fiel er mit ihm in Gleichschritt.
»Hör zu«, sagte er, mühelos atmend. »Ball die Fäuste nicht so, dann kannst du leichter atmen. Denk an nichts anderes, als mit mir Schritt zu halten. Nein, versuch nicht, mir zu antworten. Zähl deine Atemzüge. Atme tief ein und aus, so schnell wie möglich. So ist es gut. Alle zwei Schritte ein tiefer Atemzug. Und zähl weiter. Denk an nichts anderes als an die Zahl deiner Atemzüge. Und jetzt halt dich immer an mich.«
Er setzte sich vor den General und behielt erst dessen langsame Gangart bei; dann erhöhte er allmählich das Tempo.
Druss ließ sich auf der Brustwehr nieder, als das Rennen sich dem Ende näherte. Orrin wurde von dem schlanken Unteroffizier mitgezogen. Die meisten Männer hatten ihren Lauf schon beendet und beobachteten nun die letzten Läufer. Orrin lag immer noch an letzter Stelle, aber ihn trennten nur noch knapp zehn Meter von dem erschöpften Cul der Gruppe Feuer. Die Männer begannen, den Cul anzufeuern. Jede Gruppe außer Karnak beteiligte sich daran.
Noch dreißig Meter. Gilad ließ sich neben Orrin zurückfallen. »Gib jetzt alles«, sagte er. »Lauf, du fettes Schwein!«
Gilad beschleunigte sein Tempo und überholte den Cul. Orrin biß die Zähne zusammen und setzte ihm nach. Die Wut verlieh ihm Kraft. Frisches Adrenalin strömte in die müden Muskeln.
Noch zehn Meter, und er war Schulter an Schulter mit dem Mann. Er konnte die Anfeuerungsrufe der Menge hören. Der Mann neben ihm gab sein Letztes, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt.
Orrin holte im Schatten des Tores auf und überholte. Er warf sich nach vorn, krachte zu Boden und rollte in die Zuschauer. Er konnte nicht mehr aufstehen, doch Hände griffen nach ihm, zogen ihn auf die Füße und klopften ihm auf die Schulter. Er rang nach Atem … eine Stimme sagte: »Weitergehen. Das hilft. Komm schon, beweg die Beine.«
Auf
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