Die Legende
Was für ein Ort, um eine Rüstung zu tragen, dachte er. Er schauderte und drückte sich enger an die Mauer. Langsam zog das Gewitter weiter und jagte, von einem wütenden Wind aus Norden getrieben, über die sentrische Ebene. Der Regen hielt noch eine Weile an, klatschte gegen die grauen Steine der Wehranlagen und rann die Mauern des Turms hinab, zischend und spritzend, wenn einzelne Tropfen auf den Kohlen verdampften. Gilad öffnete sein kleines Verpflegungspäckchen und holte einen Streifen Trockenfleisch heraus. Er riß ein Stück ab und begann zu kauen. Noch drei Stunden – und dann drei Stunden in einer warmen Koje.
Er hörte, wie sich etwas in der Dunkelheit hinter der Brustwehr bewegte. Gilad fuhr herum und tastete nach seinem Schwert. Phantom-Ängste aus seiner Kindheit überfluteten seine Gedanken. Eine große Gestalt trat in den Lichtkreis des Kohlebeckens.
»Ganz ruhig, mein Freund. Ich bin’s nur«, sagte Druss und setzte sich ihm gegenüber. Er hielt seine großen Hände über die Flammen. »Feuer, was?«
Sein weißer Bart war triefnaß, und seine schwarze Lederweste glänzte, als wäre sie vom Sturm poliert worden. Der Regen hatte bis auf ein Nieseln nachgelassen, und der Wind heulte nicht mehr so geisterhaft. Druss summte für ein paar Augenblicke ein altes Kriegslied vor sich hin, während er sich vom Feuer wärmen ließ. Gilad, angespannt und erwartungsvoll, wartete auf die sarkastischen Bemerkungen, die jetzt kommen mußten. »Wir frieren, nicht wahr? Brauchen ein kleines Feuer, um die Phantome fernzuhalten, was?« Warum muß es ausgerechnet meine Wache sein, du alter Bastard? dachte er. Nach einer Weile wurde das Schweigen drückend, und Gilad ertrug es nicht länger.
»Eine kalte Nacht zum Spazierengehen, Hauptmann«, sagte er und verwünschte sich im gleichen Moment für den respektvollen Tonfall.
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Und ich mag die Kälte. Sie ist wie der Schmerz – sie sagt dir, daß du am Leben bist.«
Das Feuer warf tiefe Schatten in dem wettergegerbten Gesicht des alten Kriegers, und zum erstenmal sah Gilad die Müdigkeit, die sich dort eingegraben hatte. Hinter der legendären Rüstung und den Augen aus feurigem Eis war er einfach nur ein alter Mann. Hart und stark wie ein Bulle vielleicht, aber alt. Verschlissen von der Zeit, einem Feind, der niemals müde wurde.
»Du wirst es vielleicht nicht glauben«, sagte Druss, »aber das ist die schlimmste Zeit für einen Soldaten – das Warten vor der Schlacht. Ich habe das alles schon erlebt. Hast du jemals eine Schlacht mitgemacht, Freund?«
»Nein, niemals.«
»Es ist nie so schlimm, wie man befürchtet – sobald man erkannt hat, daß Sterben nichts Besonderes ist.«
»Warum sagst du das? Für mich ist es etwas Besonderes. Ich habe eine Frau und einen Hof, die ich wiedersehen möchte. Ich habe noch ein langes Leben vor mir«, erwiderte Gilad.
»Natürlich hast du das. Aber du könntest diese Schlacht überleben und dann die Pest kriegen oder von einem Löwen zerrissen werden oder Krebs bekommen. Letztendlich wirst du ohnehin sterben. Jedermann stirbt. Ich sage nicht, du sollst aufgeben und den Tod mit ausgebreiteten Armen willkommen heißen. Du mußt immer gegen ihn kämpfen. Ein alter Soldat – ein guter Freund von mir – hat mir, als ich noch jung war, einmal etwas gesagt. Daß der, der Angst hat zu verlieren, niemals gewinnen wird. Und das stimmt. Du weißt, was ein Berserker ist, mein Junge?«
»Ein starker Krieger«, antwortete Gilad.
»Oh, ja. Aber er ist mehr als das. Er ist eine Tötungsmaschine, die man nicht aufhalten kann. Weißt du warum?«
»Weil er verrückt ist?«
»Ja, das spielt auch eine Rolle. Aber noch mehr. Er verteidigt sich nicht, denn während er kämpft, ist ihm alles egal. Er greift einfach an, und geringere Männer – denen es nicht egal ist – sterben.«
»Was meinst du mit ›geringer‹? Ein Mann muß doch kein Mörder sein, um groß zu sein.«
»Das habe ich nicht gemeint … Aber ich denke, das hätte es auch sein können. Wenn ich mich als Bauer versuchte – als dein Nachbar –, würden die Leute sagen, ich wäre nicht so gut wie du. Sie würden auf mich herabsehen als einen schlechten Bauern. Auf diesen Wehrgängen werden die Männer danach beurteilt, wie lange sie am Leben bleiben. Geringere Männer oder schlechtere Soldaten, wenn du willst, werden sich entweder ändern oder fallen.«
»Warum bist du hergekommen, Druss?« fragte Gilad, der nur erfahren wollte,
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