Die Legende der Dunkelheit: Thriller
brauchte, um sich durch die einzelnen Phasen der Trauer zu arbeiten: durch Schmerz und Wut, durch Leere und Schuldgefühle, durch Hadern und Leugnen.
Als Michael die lange Auffahrt hinauffuhr und auf dem Schotter vor dem Haus parkte, rannten Hawk, Raven und Bear herbei, seine drei Berner Sennenhunde. Er holte seine Tasche aus dem Kofferraum des Audi, und sie sprangen an ihm hoch, buhlten um seine Aufmerksamkeit, bedrängten und schoben ihn, bis er sie mit müden Armen tätschelte, wie jeden Abend, wenn er nach Hause kam.
Michael war erschöpft. Völlig unterkühlt war er in Italien an Land gekrochen, und als er die in den Fels gehauenen Stufen zum Schloss hinaufstieg, hatten seine Muskeln ihm kaum mehr gehorcht. Es war mitten in der Nacht, aber alles war hell erleuchtet, und der warme Lichtschein, der durch die Schlossfenster drang, täuschte über das Grauen im Inneren des Hauses hinweg. Fast eine Stunde rannte Michael durch den angrenzenden Wald mit Krämpfen in den Beinen und mit wild schlagendem Herzen, weil sein Körper versuchte, sich gegen die Kälte zu wehren.
Simon wartete in dem kleinen Renault, der auf einem Kiesparkplatz stand, von dem aus man auf das Tyrrhenische Meer blicken konnte. Sie fuhren die ganze Nacht durch und kamen im Morgengrauen in Rom an. Michael erzählte Simon, was passiert war. Er erzählte ihm, wie er die drei Seiten Papier zerrissen und ins Meer gestreut hatte. Er erzählte ihm von den grauenvoll zugerichteten Leichen im Schloss, davon, wie sie den alten Mann gefoltert hatten, und dass anschließend alle auf der Jacht ums Leben gekommen waren, dass es nur einen einzigen Überlebenden gegeben hatte, den Mann, der mit den Leichen seiner toten Kameraden davongebraust war.
Simon nickte mitfühlend. »Das tut mir leid«, sagte er. »Für die Familie … für alle, die an Bord ermordet worden sind … Aber am meisten tut mir leid, dass du das meinetwegen alles mitmachen musstest.«
Michael schaute aus dem Wagenfenster auf das im Mondlicht schimmernde Meer.
»Und die Schatulle?«, fragte Simon leise.
»Aufgebrochen. Sie war leer.«
Simon nickte.
»Da war aber noch eine Schatulle.«
Simon blickte zu Michael hinüber.
»Die sah ganz genauso aus, auch mit einem Drachen und einem Tiger auf dem Deckel, nur war sie schwarz«, erklärte Michael weiter. »Er hat sie dem alten Mann vor die Nase gehalten. Das hat den noch viel mehr in Panik versetzt als die Folter und alles, was man seiner Familie angetan hat.«
Michael erreichte die erste Maschine, die Rom mit Ziel New York verließ, und jagte dann der aufgehenden Sonne achteinhalb Stunden hinterher. Er versuchte zu schlafen, doch er konnte die Augen nicht schließen, ohne die enthaupteten Leichen der drei Frauen und des kleinen Kindes zu sehen. Er probierte alles Mögliche, versuchte zu lesen, Musik zu hören, sich einen Film anzusehen, aber die Köpfe ohne Körper schienen sich an jeden seiner Gedanken zu hängen und sich dort festzuklammern.
Jetzt, da er vor seinem Haus stand, erschöpft und mit schmerzendem Körper, musste er sich eingestehen, was er ohnehin schon gewusst hatte, bevor er diese Reise antrat. Es war ein Fehler gewesen, Simon diesen Gefallen zu tun. Und er hatte das unbestimmte Gefühl, als wäre es ein Fehler, den er noch viele Jahre bereuen würde.
Als er im nächsten Moment KCs weißen Lexus sah, der in der Auffahrt stand, machten sich Schuldgefühle in ihm breit, weil er sie hintergangen hatte.
Das Schrillen seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf die Anzeige und nahm das Gespräch kopfschüttelnd entgegen. »Hi, Jo.«
»Wo bist du?«, entgegnete Jo. Michaels Assistentin hasste Höflichkeitsfloskeln.
»Vor meinem Haus.«
»Gut.«
»Wieso?«
»Du hast um 14.00 Uhr einen Termin.«
»Hab ich nicht.«
»Doch, jetzt schon.«
»Absolut unmöglich. Ich bin total fertig.«
»Nimm eine heiße Dusche, denn du hast einen Trip in die Stadt vor dir.«
»Auf gar keinen Fall.«
»Es geht um einen dicken, fetten Auftrag. Von dem Geld kannst du dir nicht nur ein größeres Bett kaufen, in dem du irgendwann später mal schlafen kannst, du kannst uns Sklaven auch mit einem Bonus beglücken. Die Adresse ist 300 Park Avenue, zehnter Stock. Der Name des Typen ist Lucas. Die Einzelheiten schicke ich dir gleich auf dein BlackBerry.«
»Verdammt, Jo.«
»Wenn du geistig in einer normalen Verfassung wärst, würdest du mir jetzt danken, aber so wirst du das halt später tun.« Und mit gespielt munterer Stimme
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