Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Toten verantwortlich. Die wichtigen Fragen aber waren, wie viele dieser lebenden Leichen es gab und was aus ihrem Vorhandensein folgte.
Papus hatte den Großteil ihres Lebens von Dartun gewusst; seit ihrem Eintritt in den Dawnir-Orden hatten Gerüchte über seinen Lebenswandel und seinen Missbrauch der Dawnir-Technologie die Runde gemacht. Was den Einsatz von Relikten anging, war sie die Talentierteste; jedenfalls hatte sie das bis zu Verains Besuch ehrlich geglaubt. Jahrelang war sie in der Hierarchie aufgestiegen und hatte andere die Technologie missbrauchen und bei Unfällen sterben sehen – auch ihre große Liebe, mit der sie durchzubrennen gehofft hatte. Es ging nur darum, dem Bild vom Kultisten zu entsprechen, und ihre Familie gehörte seit unvordenklicher Zeit zum ältesten dieser Orden, der sich über Generationen verfolgen ließ. Die meisten ihrer Verwandten lebten inzwischen auf Ysla im Ruhestand, gut abgeschottet vom übrigen Kaiserreich. Sie selbst aber war noch immer in Villjamur und schuftete wie eine Getriebene im Wettstreit mit anderen.
Und doch liebte Papus ihre Arbeit. Was ihr das Gefühl gab, am Leben zu sein, war der Kitzel, täglich etwas völlig Unbekanntes entdecken, das Universum dann besser als alle anderen verstehen und dadurch womöglich den Fortschritt ein wenig vorantreiben zu können.
Unterdessen aber machte Dartun sie die ganze Zeit heimlich zum Gespött.
Die Leute flüsterten über den Orden der Tagundnachtgleiche, was seine Mitglieder in schlechtem Ruf stehen ließ. Ihre Moral war umstritten. Doch da Papus wusste, wie gern Dartun seinen Mythos pflegte, hatte sie sich um das Geschwätz bisher nicht geschert.
Doch nun war er zu weit gegangen.
Er hatte am Gewebe des Lebens hantiert, und das war von öffentlichem Belang. Falls er wirklich Tote auferweckte, musste er gestoppt werden. Sollten die Behauptungen der jungen Verain zutreffen, dann pfuschte er an Grundstrukturen des Universums herum. Unter den Kultisten galten Verhaltensgrundsätze, die so alt waren wie Villjamur, und diese Regeln forderten auch und mit Nachdruck, dass alle Orden über strittige Themen gemeinsam zu beraten hatten.
Sollte Dartuns Orden nicht auf Papus’ Forderung eingehen, all das offenzulegen, was mit der Erweckung von Toten zusammenhing, käme dies einer Kriegserklärung gleich.
Seit Jahrtausenden war es zwischen den Orden zu keinem Streit mehr gekommen – seit jenen Unstimmigkeiten nämlich, die überhaupt erst zur Gründung verschiedener Orden geführt hatten.
Die Dinge wirkten plötzlich sehr kompliziert.
Sie seufzte. Das hier war anders als in ihrer Jugend vor vielen Jahren auf Ysla. Das Eiland der Kultisten unterschied sich von allen anderen Inseln des Archipels geologisch, botanisch und insektenkundlich. Es begann schon damit, dass es dort wärmer war als überall sonst. Doch dann war die Insel von den dort lebenden Mitgliedern der diversen Orden mithilfe ihrer Relikte so verbessert worden, dass sie dem Eiland, das der ursprüngliche Dawnir geschaffen hatte, kaum mehr ähnelte. Es gab saftig grüne Wiesen, Bergketten aus Vulkangestein, herrliche weiße Sichelstrände, sommergrüne Bäume, die im Rhythmus der künstlichen Jahreszeiten Blätter bekamen und abwarfen, sowie den blauen Himmel, der von den Hügelkämmen stets zu sehen war. Alle Orden durften das Land dort nutzen, und ihre verschiedenen Abteilungen besaßen über die Insel verteilte Häuschen oder hatten sich in Dörfern angesiedelt, wo ihre Mitglieder die Relikte vergleichsweise ungestört deuten konnten.
All das schien nun unendlich weit weggerückt zu sein.
Ihre Gedanken kehrten wieder zu Dartun zurück, und sie traf eine Entscheidung. Dass er mit der Lebens- und der Todeskraft herumpfuschte, war schlicht falsch, und dass er die Tore zu neuen Welten so rücksichtslos öffnete, gefährdete alle Inseln unter der Roten Sonne. Sie war ganz eindeutig dafür zuständig, ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen.
Mit ihrem resolut aufgesetzten Brief schritt Papus durch die dunklen Gassen, in die sich die Schneeräumer mit ihren Schaufeln noch nicht gewagt hatten. In diesem Teil der Stadt gab es keine Straßenbeleuchtung, doch der Abend war klar, und die beiden Monde beschienen den tückischen Schnee. Glitzernde Wege erstreckten sich vor ihr. Zwar war es nicht gerade spät, doch die Gassen waren leer, und auch Fußspuren gab es kaum. Die Leute hielten sich offensichtlich lieber anderswo auf als draußen in der Kälte. Die Hand mit dem
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