Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
seiner Jahre in den Folterkammern der Inquisition konnte er sich an diese Darstellungen nicht gewöhnen. Ihr Schrecken allerdings war von anderer Art, denn unbegreiflicherweise pulsierte vor ihm eine künstliche Lebenskraft. Mit gestrecktem Finger stupste er sie mehrmals an. Seiner ersten Vermutung nach handelte es sich um etwas Böses, das die Kultisten mithilfe der Künste der Dawnir heraufbeschworen hatten. Warum besaß sie so Ungeheuerliches in ihrer Wohnung? Wie konnte sie nachts schlafen, wenn derlei bloß unter Tüchern verborgen war? Hatte sie diese Wesen gemalt, die jederzeit zum Leben erwachen konnten? Oder hatte sie sie einem Kultisten abgekauft?
Hinter ihm hustete es. Offenbar hatte sie sich an dem Pulver verschluckt. Er trat zu ihr. »Wie geht es Euch?«
Sie sah durch das Haar, das ihr in die Stirn gefallen war, zu ihm hoch. »Schrecklich«, krächzte sie, strich sich über den Schädel und betastete die Beule, die sich dort gebildet hatte.
»Gut. Und nun will ich, dass Ihr mir die Wahrheit sagt.«
Sie strich sich eine üppige Locke hinters Ohr.
»Zunächst mal: Wie heißt Ihr?«
»Tuya Daluud.«
»Alter?«
»Ich … ehrlich, ich weiß es nicht.«
»In Ordnung, Tuya Daluud. Bitte erklärt mir diese Gemälde! Sagt mir, warum sie lebendig wirken!«
»Sie sind lebendig.«
»Das kommt davon, wenn man dumme Fragen stellt … «, brummte Tryst in sich hinein. »Na gut, aber wie habt Ihr das gemacht?« Er kniete sich fast drohend hin, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Ein Außenstehender hätte denken können, sie wollten einander küssen.
»Vor vielen Jahren war ich mit einem Kultisten zusammen. Um es kurz zu machen: Er hat mich mit speziellen Materialien versorgt, mit Relikten, und mir die Techniken gezeigt, meiner Kunst zusätzliches Leben einzuhauchen.«
»Warum sollte ein Kultist das tun?«, höhnte Tryst.
Sie sah ihm in die Augen. »Weil er mich liebte.«
»Er hat für Euren Körper bezahlt, und Ihr nanntet es Liebe, ja?«
»So war es ganz und gar nicht. Er hat nur das erste Mal bezahlt … «
»Ich bin mir sicher, dass es nicht Euer erstes Mal war«, sagte Tryst in der Hoffnung, sie mit diesem Sarkasmus zu provozieren.
»Warum seid Ihr so zu mir? Ich hab Euch nichts getan.«
»Stimmt.« Er nahm ihr langsam die Fesseln ab. »Schauen wir uns jetzt mal Eure Galerie an, ja?«
Sie erklärte ihm jedes Gemälde von der Idee bis zur Ausführung.
Hinter den Bildern, die Tryst sich zuvor angesehen hatte, warteten noch größere Schrecken, die er nie vergessen würde. Was er zunächst nur als widerwärtig empfunden hatte, hielt er später für grausam, da ihre Werke tatsächlich lebendig zu sein schienen, aber in ihm gänzlich unvertrauter Weise. Eine Stunde lang bekam er die Feinheiten ihrer Bilder gezeigt, die Gestalten, die aus der Leinwand zu treten schienen. Die meisten ihrer Schöpfungen waren inzwischen frei und im Archipel auf Reisen. Ein Werk faszinierte ihn besonders: die Lehmskulptur eines liegenden Hundes. Wenn sie ihm nahe kam, drehte das Tier den Kopf, als nähre es sich von ihrer Gegenwart. Von den Augen abgesehen, in denen sich schwache Gefühle bekundeten, war das Wesen ganz schwarz. Wie konnte etwas so Unwirkliches belebt sein? Das widersprach jedem Naturgesetz, jeder religiösen Lehre und jeder Philosophie, die er kannte.
»Eine letzte Frage«, begann Tryst, als vom Glockenturm die dreizehn Schläge der Mitternacht drangen. »Warum malt Ihr diese Dinge?«
Sie starrte die Laterne auf der Kommode an wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung. »Der eigentliche Grund dafür ist, dass ich es vermag. Ihr wisst nicht, wie erfüllend es ist, wenn Eure Schöpfungen zum Leben erwachen. Das weiß niemand, also kann ich es auch nicht erklären. Jedenfalls gewinnt die Kunst auf diese Weise ein Eigenleben. Ich weiß noch, dass die Leute – als ich viel jünger war – meine Gemälde als leblos kritisierten. Heute kann ich alles aus der Leinwand treten lassen, und meine Schöpfungen verhalten sich meinen Wünschen gemäß – auch wenn sie kurz danach sterben. Und das tue ich, weil … nun, weil ich einsam bin. In dieser großen Stadt fühle ich mich als Fremde. Meine Familie ist vor Jahren gestorben. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht – wohin soll ich sonst? In hinterwäldlerischen Dörfern abgelegener Inseln gibt es für mich nichts zu gewinnen, und während der Winterstarre hätte ich dort ohnehin keine Chance. Nein, ich bin hier als ewige Fremde gefangen. Womöglich erleichtert mir
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