Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Lagerfeuer mischten sich zu einem beißenden Gestank, und die Zelte erstreckten sich wie eine Stadt aus Stoff in die Tundra. Hunde rannten ziellos im Kreis und duckten sich unter aufgehängter Wäsche hindurch, die so hart gefroren war, dass sie nicht einmal mehr im Wind wehte. Die schlammige Straße gen Osten führte direkt an dem furchtbaren Lager entlang. Schmutzige Männer in Lumpen langten flehend nach den Männern, während der Anblick einer Mutter, die ihr totes Kind in einer Schlinge trug, fast unerträglich war. Diese Menschen nicht beachtet zu haben, wird mich später mit Albträumen quälen, dachte Brynd schuldbewusst. Überall war nichts als Hoffnungslosigkeit.
»Diese Flüchtlinge … « Kanzler Urtica stand am Fenster und sah zwischen den Türmen hindurch auf das Lager vor den Toren Villjamurs. »Sie ärgern mich ein wenig.«
Tryst trat aus dem Halbdunkel. »Wollt Ihr sie jetzt beseitigt wissen, Sir?«
Die Hände noch immer aufs Sims gestützt, wandte Urtica sich um und sah ihn an. »Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend, mein Lieber, absolut entscheidend. Natürlich wünsche ich ihre Entsorgung, weil sie ein Schandfleck des Kaiserreichs sind. Vergesst nicht, dass diese Stadt ein Ort der Legenden ist. Seit Langem verfassen die Dichter Gesänge über die Nächte Villjamurs. Diese Flüchtlingsbagage können wir hier keinesfalls dulden.«
»Und was habt Ihr vor?«, fragte Tryst. »Habt Ihr mich deshalb hergebeten?«
»Nicht nur. Ich habe mich auch gefragt, wie Ihr mit unserem kleinen Freund zurechtkommt, dem Rumel-Ermittler.«
»Gar nicht schlecht«, gab Tryst zurück. »Er hält sich bedeckt, was die Morde anlangt. Daher vermute ich, dass er etwas weiß. Er schweigt sich gewöhnlich nämlich nicht derart gründlich aus.«
»Meint Ihr, dass er den Mörder findet?«
»Dessen bin ich mir sicher«, sagte Tryst und hoffte, die Tatsache bemänteln zu können, ihn bereits gefasst zu haben. Wenn er mit Tuya fertig wäre, würde er für ihre Verhaftung und Hinrichtung sorgen, doch bis dahin galt es, seine eigenen Pläne zu verfolgen. Ja, der richtige Zeitpunkt war entscheidend. Bis dahin aber wollte er sein Verhalten nicht als Verrat an Urtica betrachten.
»Ich habe von höheren Stellen der Inquisition viele Bitten bekommen, Ermittler Jeryd in den Ratssaal zu lassen, um die Ratsmitglieder ausführlich zu befragen. Ich bin allerdings skeptisch, ob ich das erlauben soll.«
»Das solltet Ihr keinesfalls, Kanzler. Ich habe schon Maßnahmen eingeleitet, die Jeryd sattsam ablenken werden.«
»Gut.« Urtica musterte Tryst, bis der Inquisitions-Gehilfe nervös wurde. »Sagt mir als sein Assistent, was Ihr über diese Morde wisst!«
»Sehr wenig«, log Tryst, »da es kaum Spuren gibt. Anscheinend wurden beide Ratsherrn absichtlich zur Strecke gebracht. Und zwar jeweils von einer entfesselten Kreatur.«
»Ihr sprecht von einer Kreatur.« Urticas Miene verriet Überraschung. »Hmm, wir leben wirklich in seltsamen Zeiten. Berichten zufolge stehen Tote auf, um unter den Lebenden zu wandeln … aber das ist streng vertraulich.«
»Natürlich, Kanzler. Natürlich.«
»Unsere Militärunternehmen dürfen nicht publik gemacht werden, obwohl sie sich letztlich doch herumsprechen.«
»Gegen wen kämpfen wir denn?«, fragte Tryst.
»Gegen Varltung. Ich bin etwas besorgt darüber, keine neuen Geheimdienstberichte zu bekommen. Die üblichen Garuda-Flüge haben aufgehört. Zudem haben wir Tausende stinkende Flüchtlinge vor unseren Toren, die in ihrem Dreck und ihren Krankheiten leben. Es ist bloß noch eine Frage der Zeit, bis diese Krankheiten auf unsere Stadt übergreifen.«
»Habt Ihr schon Pläne, Sir?«
»Allerdings, Tryst. Allerdings. Ich habe Euch auch herbestellt, um mir bei Euch Ideen zu holen.«
Urtica öffnete die Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Dann sperrte er ab und zog Tryst in den fernsten Winkel des Zimmers. »Wir schwören jetzt bei den Ovinisten«, sagte er, und Tryst begriff, was er meinte.
Urtica legte ihm den Arm um die Schultern. »Gesetzt den Fall, unsere neue Kaiserin würde mehrere Verordnungen unterzeichnen, um diese Flüchtlinge zu … beseitigen . Gesetzt den Fall, sie brächte diese Maßnahmen heimlich auf den Weg, und sie würden … dem Rat und der Inquisition plötzlich zur Kenntnis gebracht – was würde das gemäß den Gesetzen des Kaiserreichs offiziell bedeuten?«
»Nun … « Tryst erwog die Frage und versuchte, sich seines Studiums der alten,
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