Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
für Euch, zurück nach Folke zu reisen?«
»Wahrscheinlich. Ich stehe ziemlich unter Zeitdruck, weil meine Mutter nicht mehr lange zu leben hat.« Seine Stimme hellte sich auf. »Aber wenn Ihr wollt, stehlen wir uns am Abend in die Höhlen und üben für den Ball. Denlin hat erzählt, es gibt heute ein Straßenfest, und dorthin sollten wir gehen, damit Ihr Euch daran gewöhnt, vor Publikum zu tanzen. Ihr könnt Euch noch was Abgerissenes anziehen – falls Ihr das überhaupt besitzt. Es wird kalt und schmutzig werden.«
»Ich finde sicher etwas Passendes. Ihr führt mich wirklich an die herrlichsten Orte.«
Recht eilig gingen sie durch die engen Straßen, und ihre Schritte huschten übers Pflaster. Sie hatten die Soldaten im Balmacara glauben lassen, Eir ziehe sich früh zurück, da sie sich unwohl fühle. Sie selbst spürte bei dem Unternehmen eine angenehme Vorfreude. Auf den steilen Treppen abwärts ergriff sie mitunter Randurs Hand. Der Himmel war trüb und blaugrau, und der Schnee schwebte so hypnotisierend langsam zu Boden, als hinge er in der Luft. Schimmernde Eiszapfen ließen die Brücken wie mit Dolchen geschmückt erscheinen. Neuerdings wagten die Leute sich abends selten hinaus, doch man sah sie durch die Vorhänge spähen: bedrückte Gestalten, die aus ihren warmen Gefängnissen schauten.
Eir hatte ein eng anliegendes braunes Gewand gewählt und ihr dunkles Haar absichtlich zerzaust, um nicht vermögend zu wirken. Sie empfand es als befreiend, die Normalität mit ihren gezwungenen Umgangsformen abzustreifen.
Im Schneematsch hielten sie durch leere Straßen auf die Höhlen zu, auf dem Weg in das echte Villjamur. Sie mochte die Vorstellung, dass bei derart enger Bebauung jedes Haus seine Wärme mit den Nachbarhäusern teilte. Und immerhin gab es dort Schutz, während andere Gebiete des Kaiserreichs mit der unkontrollierten Ausbreitung des Eises und mit Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung zu kämpfen hatten. Trotz der Härten, die sie in Villjamur beobachtet hatte, war es also kein Wunder, dass die Flüchtlinge sich vor den Toren sammelten. Eir hatte die Armut in der eigenen Stadt gezeigt bekommen, und nun kam sie erneut an Obdachlosen vorbei: an Mädchen ihres Alters, die unter verfallenden Torbögen schliefen; an Rumelfamilien, die in eingefasste Feuergruben starrten. Eirs Luxusleben war von all dem abgeschottet gewesen, und erst Randur hatte sie darauf hingewiesen. Schon ein Besuch hier unten hatte ihr die Augen geöffnet. Sie hatte nicht gewusst, dass die Stadt so dunkle Seiten besaß. Wenn ihr klar gewesen wäre, wie es in der Welt tatsächlich zuging, hätte sie dann mehr dagegen unternommen?
Durch labyrinthische Gassen kamen sie auf einen gut beleuchteten, von terrassenförmig angeordneten Wohnungen umstandenen Platz. Aus schmalen Fenstern beugten sich Frauen zu Männern hinab, die zu ihnen hochriefen. Das schien eine Art Ritual zu sein. Jemand schlug eine Trommel, und farbenprächtig gekleidete Frauen schlängelten sich in die Mitte der Szenerie, während in den Ecken alte Männer auf Bänken zusammensaßen, Pfeife rauchten, sich unterhielten und dabei so fröhlich waren, wie Eir es seit Beginn der fortschreitenden Abkühlung nicht mehr gesehen hatte.
»Randy, du bist ja gekommen!« Sie erkannte Denlins Stimme. »Und du hast dein Mädel mitgebracht. Donnerwetter!«
»Denlin, alter Mistkerl.« Randur drehte sich sofort zu Eir um, als wollte er seine Wortwahl entschuldigen, wandte sich dann aber wieder seinem Freund zu. Der Alte schlug ihm auf die Schulter und verbeugte sich tief vor Eir.
»Hier doch nicht, Denlin«, flüsterte sie. »Hier bin ich eine Frau wie jede andere.«
»Na klar!« Er lächelte.
»Nein wirklich. Heute Abend möchte ich bloß tanzen.«
»Dahinter dürfte dieser Junge stecken.« Denlin wandte sich an Randur und musterte ihn.
»Aber nein«, sagte der. »Diese Frau hat ihren eigenen Kopf. Ein Narr wie ich könnte sie nie zu etwas bewegen.«
Es gefiel Eir, dass er sie als Frau bezeichnet hatte. Das erschien ihr wichtig.
»Wenn du meinst«, gab Denlin zurück. »Es sieht so aus, als wären sie gleich so weit … « Er zeigte auf die tanzbereiten Paare.
Eir beobachtete staunend, wie die hiesigen Frauen die Männer ganz selbstverständlich führten. Der Rhythmus wurde schnell und treibend, bis sich die Füße rasch über den Platz bewegten. Die Tänzer riefen sich immer wieder etwas zu und machten einander auf die nächste prächtige Tanzfigur aufmerksam. Als
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