Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
krampften. Warum tat plötzlich alles so weh? Sie strich sich das Haar aus der Stirn und blinzelte ins Licht des halb geöffneten Fensters. Verschwommen sah sie einen blauen Umriss oben an der Decke schweben. Ein eisiger Wind fuhr ins Zimmer und wehte Laub und Schnee herein.
»Wer ist da?«, fragte sie mit beunruhigend schwacher Stimme. Als starke Frau war sie es nicht gewohnt, sich so hilflos zu fühlen.
Keine Antwort. Straßengeräusche drangen zu ihr herauf, Stimmen von Händlern, die auf dem Markt eifrig ihre Waren feilboten. Es war offenbar mindestens später Vormittag, doch sie hatte keinerlei Zeitgefühl.
Als der blaue Umriss sich zu ihr herabsenkte, erkannte sie in ihm sofort eines der Bilder, die sie Wochen zuvor gemalt hatte. Das fledermausartige, pelzige und kindgroße Geschöpf starrte sie mit dunklen, glänzenden Augen mitleidig an. Sie hatte nicht geahnt, dass es so lange überlebt hatte, und nur selten darüber nachgedacht, was aus ihren vielen Schöpfungen wurde. Es rührte sie, dass dieses Wesen zu ihr zurückgekehrt war.
In diesem Moment wurde ihr unvermittelt ihre Zwangslage bewusst.
Tryst, dieser Mistkerl, hatte sie nicht nur geschlagen, sondern ihr auch Drogen verabreicht.
Nun ging es zuallererst darum zu fliehen. Tuya erhob sich, sank aber gleich wieder zusammen. Ihre Beinmuskulatur wollte ihr kaum gehorchen, und es schien, als müsste sie das Gehen neu erlernen. Das Geschöpf wälzte sich unbeholfen von ihrem Bett, streckte Arme und Flügel aus und half ihr auf, doch Tuya musste sich gleich wieder hinsetzen.
»Warum bist du gekommen? Woher wusstest du, dass ich Hilfe brauche?«
Das Wesen schien nicht sprechen zu können. Ob es sie überhaupt zu verstehen vermochte?
Nachdem sie sich gesammelt hatte, humpelte sie im Zimmer herum, um einige Habseligkeiten zu packen, und zog sich vorsichtig um. Als sie alles hatte, was sie brauchte, drückte sie die Klinke und stellte fest, dass die Tür zugesperrt war. Sie konnte ihre Schlüssel nirgendwo finden, und die Tür gewaltsam öffnen zu wollen, erwies sich als fruchtlos.
Erneut kam das seltsame blaue Geschöpf zu ihr, und sie wich zurück, als es die massive Holztür betrachtete. Das Wesen streckte die Flügel aus, erhob sich mit Schwung in die Luft, schwebte, flog im Kreis, was so manche Schmuckstücke und Antiquitäten zu Boden gehen ließ, und warf sich dann mit voller Wucht gegen die Tür.
Holz wie Metall zerstoben zu blauen Funken.
Die Tür und das Wesen waren nicht mehr da. Tuya gaffte diese merkwürdige Selbstaufopferung ungläubig an. Trauer überkam sie, denn nie zuvor hatte ihr ein Geschöpf so viel Liebe erwiesen.
Doch zum Leiden war jetzt nicht die Zeit. Mit einer Tasche voller Habseligkeiten trat sie in den Hausflur, um ihre Flucht zu beginnen.
Sie musste sich säubern und wieder einen klaren Kopf bekommen.
An wen konnte sie sich wenden?
KAPITEL 38
Langschiffe hielten gen Osten und wichen den tückischen Eisschollen nordwestlich von Villiren sorgfältig aus. Brynd blickte übers Wasser, um zu sehen, wo der Wind am stärksten über die zerklüftete Küste, das Eis und die Kalksteinklippen wehte. Kaum hatten sie die dunkleren Gewässer hinter sich, blähten sich die Segel, und das Schiff gewann ruckartig an Fahrt, doch damit hatte die Mannschaft gerechnet. An diesem Küstenstreifen waren offenbar kürzlich Eisbrecher unterwegs gewesen.
Dann zeigte sie sich, Villiren, eine der größten Städte des Boreal-Archipels und zugleich einer der gesetzlosesten Orte des Reichs. Der Hafen lag zwischen zwei mächtigen, von Vögeln und Pterodetten umwimmelten Steilklippen. Auch einige desertierte Garudas, die in Gruppen tief in den Höhlen ein illegales Dasein führten, waren in der Luft.
Villiren war der wirtschaftliche Mittelpunkt des Kaiserreichs und lag strategisch günstig zwischen mehreren Bergbauinseln wie Tineag’l, wo Erz meistbietend verkauft, besteuert und verschifft wurde. Händler aus Villiren hatten ein Vermögen damit verdient, die Kaiserlichen Armeen zu beliefern. Die Bewohner der Stadt waren mit Demokratie »belohnt« worden, hatten dann aber jemanden gewählt, der dem Rat von Villjamur offen zuarbeitete, was nicht Brynds Vorstellung von Demokratie entsprach. Unter dem neuen Bürgermeister hatte die Stadt sich in den letzten Jahren rasant vergrößert – meist auf Kosten der Arbeiter und ihrer Rechte. Viele Arme waren im Zuge dieses Fortschritts aus ihren Häusern verdrängt worden und sahen sich gezwungen, in
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