Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
beraubte. Doch dann langten die Leute plötzlich in Scharen an. Ganze Sippen machten sich in kleinen, überladenen Booten auf die gefährliche Reise, und nicht wenige ertranken im eiskalten Wasser.
Alle Ankömmlinge hatten das Gleiche zu berichten.
Die Klauen oder die Panzer, so hatten die Einheimischen die eindringende Gattung genannt. Ganze Familien, dann Weiler, dann Städte und mehr wurden in nur einer Nacht ausgelöscht. Sehr viele Leute wurden vermisst, einige Leichen waren später gefunden worden, gehäutet. Nur den ganz Jungen und den Alten blieb die Entführung erspart, doch stattdessen wurden sie grausam ermordet. Die Eindringlinge waren grässlich anzuschauen: aufrecht gehende Krustentiere, die keinen Respekt vor dem Leben hatten. Und niemand wusste, woher sie gekommen waren.
Brynd hörte sich all dies schweigend an und war sich der Ironie schwach bewusst, dass in vielen Stämmen einst jahrhundertelang ähnliche Geschichten über die eindringenden Truppen des Kaiserreichs kursierten.
Doch diese Krise war weit schlimmer als erwartet und gefährdete nicht nur das Kaiserreich, sondern das Überleben von Mensch und Rumel.
»Und alles, was Ihr mir berichtet habt, ist die reine Wahrheit?«, fragte Brynd abschließend. »Ihr habt nirgendwo zu Euren üblichen Übertreibungen gegriffen?«
»Übertreibungen?« Der Dicke Lutto tat gekränkt.
»Nun, einst habt Ihr das Gerücht verbreitet, ein Teil der Kyálku sei von Varltung hergesegelt, um sich mit den Froutan zu verbünden und eine Rebellion an den Küsten des Kaiserreichs auszulösen – nur damit Ihr in ganz Villiren und Y’iren Schutzgeld erheben konntet. Erinnert Ihr Euch noch?«
»Haltlose Beschuldigungen! Lutto ist verletzt!«
»Und warum habt Ihr keine Nachrichten mehr gesandt?«
»Weil kein Bote mehr die Stadt zu verlassen wagt.« Lutto legte Brynd seine dicke Hand auf die Schulter. »Ihr wisst vielleicht, dass ich nur selten Angst zeige, doch eine solche Krise habe ich noch nie gesehen. Wir haben schon ein paar Hundert Flüchtlinge in die Stadt gelassen, doch viele warten noch auf Tineag’l und wollen durchs Eis hersegeln. Das wird weitere Tote geben. Und bald lässt das Eis sich nicht mehr aufbrechen. Dann gelangt man trockenen Fußes von Tineag’l nach Y’iren und direkt hierher. Was dann?«
»Ich staune, dass Ihr noch nicht geflohen seid.«
»Ihr scherzt natürlich, Kommandeur Brynd! Nur hier sind wir sicher. Das ist immerhin eine Festungsstadt mit vielen geschickten Kämpfern.«
»Ich will alles über die Situation der Flüchtlinge auf Tineag’l erfahren. Welche Orte wurden angegriffen? Von wo aus wollen sie lossegeln? Könnt Ihr das organisieren?«
Der Dicke Lutto nickte mit wackelndem Dreifachkinn. »Ich werde alles tun, um unsere Stadt zu retten.«
Brynd sorgte dafür, dass seine Soldaten ein anständiges Nachtquartier in einer leeren Kaserne am Nordrand der Stadt oberhalb des überfüllten Hafens bekamen. Die Männer durften sich nicht in Villiren sehen lassen, da sie sonst – wie dem Kommandeur klar war – mächtige Probleme bekommen konnten.
Jurro, der Dawnir, bekam ein Zimmer für sich allein und schien sehr froh darüber, den Abend nur mit seinen Büchern zu verbringen. Brynd wollte unbedingt vermeiden, dass in der vor einer Panik stehenden Stadt die Vermutung laut wurde, ein Retter sei aufgetaucht, um Villiren vor dem drohenden Unheil zu bewahren.
Brynd hoffte auf einen überschaubaren Einsatz, besaß aber keine Kenntnisse über die Fähigkeiten des Gegners. Am nächsten Morgen befahl er, die im Hafen dümpelnden Boote zu requirieren, zusammenzubinden und zwecks Vorbereitung der Evakuierung mit mehreren Jamur-Langschiffen an die Südküste Tineag’ls zu schleppen.
Als er nachts wach auf seinem Behelfsbett im Schlafsaal der Kaserne lag, konnte er trotz der dicken Mauern und des Schnarchens ringsum die leisen Geräusche von Lachen und Ausschweifung aus der Stadt heraufdringen hören und wunderte sich, dass das Leben trotz einer Krise, der die Bewohner demnächst zum Opfer fallen konnten, einfach weiterging. Wie viel wussten die Menschen hier überhaupt von der nahenden Gefahr?
Weil er keinen Schlaf fand, schob er die Laken schließlich beiseite, zog seine Uniform an, trat auf den Balkon und blickte über den Hafen. Es war eiskalt, und die Wolken, die ihnen während des Tages gefolgt waren, zogen nun nach Südwesten. Im Wasser spiegelten sich Sterne, der Hafen erstreckte sich in weitem Bogen von links nach rechts, und
Weitere Kostenlose Bücher