Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
überall in der Stadt brannten farbige Laternen. Streunende Hunde und massige Gliederfüßer trieben sich zwischen umgestürzten Kisten im Hafen herum, während Leute zu zweit oder dritt durch die schmutzigen Gassen hinter den Flachdachbauten nach Hause gingen.
Brynd versuchte, an alles Mögliche zu denken, um sich von dem morgigen Einsatz abzulenken. Er dachte an Kym: Eines Nachts hatten sie auf einem Balkon miteinander geschlafen, und die Gefahr, ertappt zu werden, die sie damals zusätzlich erregt hatte, war nun zu einer herzerwärmenden Erinnerung geworden.
Solche nahezu geistesabwesenden Rückblicke ließen ihn die zwei Gestalten, die etwas entfernt im Schatten standen, erst verspätet wahrnehmen. Es handelte sich um Apium und die Kultistin Blavat.
Als er sich zu ihnen gesellte, fragte Apium: »Könnt Ihr auch kein Auge zutun?«
»Nein, vor einem großen Tag fällt mir das Einschlafen immer schwer.«
»Ein richtig großer Tag ist schon viel zu lange her«, murrte Apium. »Ohne die Sache in Dalúk hätte ich schon ganz vergessen, wie man kämpft.«
»Ihr seid ungewohnt mürrisch«, bemerkte Brynd.
Der untersetzte Soldat zuckte nur die Achseln.
Die Kultistin wandte sich Brynd zu, und ihre alte Haut wirkte im Sternenlicht seltsam zeitlos. »Soll ich ein Feuer anzünden, um Euch zu wärmen?«
»Gern«, sagte er dankbar.
Sie griff in die Tasche und drehte etwas. Ein violettes Licht sprang aus dem Nichts. Sie setzte es auf die Brüstung, wo es sich bald in ein willkommenes Glühen verwandelte.
»Praktisch«, bemerkte Apium bewundernd.
Die drei blickten nordwärts, Richtung Tineag’l. Brynd vermochte sich nicht vorzustellen, in welcher Verfassung die Flüchtlinge inzwischen waren. Es konnte Tage dauern, sie zu erreichen, und man musste einberechnen, wie weit das Eis sich bereits nach Süden vorgearbeitet hatte und wie weit sie würden reiten müssen.
»Ich kann Euch nicht unbedingt aus jeder schwierigen Lage retten«, sagte Blavat matt und blickte dabei ins Feuer. »Glaubt bloß nicht, wir Kultisten hätten das Zeug zu großen Helden – wir sind ganz normale Menschen wie Ihr.«
»Mit wem habt Ihr es Euch in Villjamur eigentlich verdorben?«, wollte Apium wissen. »Schließlich seid Ihr die arme Sau, die mit der Armee hoch in den Norden ziehen muss und nicht warm und sicher in der Hauptstadt bleiben kann.«
»Man schuldet seinem Orden eine gewisse Loyalität, aber Papus legt etwas zu viel Wert darauf, an der Spitze zu stehen. Sie wird nicht gern herausgefordert, und offenbar war ich beim Rest meines Ordens ein wenig zu beliebt. Die Zeiten sind unsicher, und sie wollte sehr deutlich machen, wer der Chef ist, besonders jetzt.«
»Besonders jetzt?«, fragte Brynd und staunte über ihren dringlichen Ton.
»Ja, das alles hat mit Dartun Súr vom Orden der Tagundnachtgleiche zu tun. Papus hasst ihn und macht ihn sogar für die Draugr verantwortlich. Ich weiß nicht, ob es sich da nur um eine persönliche Rache handelt oder ob sie ihm moralisch wirklich so überlegen ist. Wundert Euch nicht, wenn bei unserer Rückkehr nach Villjamur alle Kultisten miteinander im Krieg liegen. Und ich hatte gehofft, die Winterstarre in aller Ruhe auf Ysla aussitzen zu können … «
»Dieses Ysla«, fragte Apium, »was ist das eigentlich?«
»Ein unglaublicher Ort, wirklich. Es gibt dort Probleme wie überall, doch ein Verwaltungsrat aus Mitgliedern aller Orden sorgt dafür, dass alles reibungslos läuft. Dort bleibt es bedeutend wärmer als anderswo im Archipel; daher dürfte das Eis dort keine großen Sorgen bereiten.«
»Ich glaube, Ihr könnt das Wetter dort manipulieren«, unterbrach Brynd sie. »Warum tut Ihr das nicht auch im übrigen Kaiserreich?«
»Einige Mitglieder des Ordens der Natur können die Wolken beeinflussen und so dafür sorgen, dass die Sonne scheint und Schneestürme einen Bogen um uns machen, aber das klappt nur für kürzere Zeiträume. Es ist eine schwierige Wissenschaft, und obwohl es eine Überlieferung aus Epochen gibt, in denen die Sonne heller schien, verstehen wir nur einen Bruchteil davon.«
Alle schwiegen und betrachteten die Stadt vor sich. Immer weniger Sterne waren zu sehen, denn von Norden zog eine Wolkenbank heran. Brynd fragte sich, wann es zu schneien begänne, und war daher nicht überrascht, als der Niederschlag einsetzte, zaghaft zunächst, dann heftiger.
»Wie zuversichtlich seid Ihr eigentlich, was den Einsatz morgen angeht?«, fragte Blavat schließlich.
»Das weiß ich
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