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Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Titel: Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
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mitleiderregend zu ihm auf und hielt sich mit der einen Hand den Magen, mit der anderen die Nase. In solchen Augenblicken begriff Jeryd stets aufs Neue, dass sich manche Leben für immer ändern ließen.
    »Es tut mir leid, Jeryd«, keuchte Tryst. »Ich war zornig. Ich habe mich sehr über Euch geärgert.«
    Jeryd sah auf ihn hinunter. »Das«, knurrte er, »hättest du mich auf anderen Wegen wissen lassen können.«
    »Ich wollte Euch leiden lassen, damit Ihr wisst, wie ich mich fühle … Ich hatte diese Beförderung verdient.«
    Beide schwiegen eine Weile, da eine Banshee in den Höhlen schrie. Wieder blickte Jeryd auf Tryst hinunter und sah die Angst in den Augen des jungen Mannes, als wäre dieser Schrei eine Warnung gewesen.
    »Was werdet Ihr mit mir tun?«, fragte der Gehilfe.
    Was konnte Jeryd tun? Er war kein Mörder. Doch er wollte auch nicht, dass Marysa die Wahrheit erfuhr.
    »Ich könnte dich hier und jetzt abstechen«, sagte er, »und die üblichen Verdächtigen dafür verantwortlich machen, von denen es mehr als genug gibt. Doch das werde ich nicht tun, weil wenigstens ich gewisse Moralvorstellungen besitze.« Er schob das Messer in den Ärmel zurück. »Aber ich will auch nicht, dass Marysa von der Sache erfährt. Tut sie es doch, stehst du entweder auf der Fahndungsliste, oder du bist tot.« Er bückte sich, um Tryst direkt ins blutige Gesicht zu schauen. » Das schwöre ich dir.«
    »Bitte, Jeryd, lasst es dabei bewenden! Wir können darüber hinwegkommen.«
    Der Rumel stieß ein trockenes Lachen aus.
    Tryst fuhr fort: »Was ist mit Tuya? Wir wissen, dass sie die Mörderin ist. Wir können sie verhaften lassen und werden dafür belohnt, die Verbrechen aufgeklärt zu haben.«
    Als ob es nur um diese Morde ginge! Als ob da nicht noch Tausende Flüchtlinge wären, die von ihrer Obrigkeit auf zynische Weise umgebracht werden sollen! Was weißt du eigentlich darüber, Tryst?
    Jeryd seufzte. »Gut, halt dich die nächsten Tage vom Inquisitionsgebäude fern! Wenn du wiederkommst, arbeitest du nicht mehr für mich. Solltest du auch nur das Leiseste über diese Sache verraten, wird man dich ohne Arme und Beine tot in einer Gasse finden. Ist das klar?«
    Tryst nickte eifrig und tupfte sich dabei die blutende Nase.
    Jeryd wandte sich ab und ging durch die verschneite Straße davon.
    Jeryd blickte über die Stadtmauern auf das Flüchtlingslager. Die aufziehende Nacht schien die zu Hunderten brennenden Feuer zu ersticken und Hoffnungslosigkeit zu verbreiten. Rauchfahnen stiegen zwischen den Zelten auf. Ununterbrochen hallte Hundegebell über die Tundra. Inzwischen sollten sich dort unten zwischen Stadtmauern und Strand fast zehntausend Flüchtlinge drängen. Die Verzweiflung, in der sie lebten, schien drückend auf ihnen zu lasten.
    Er fragte sich kurz, ob die Geschichten, die er gehört hatte, stimmen mochten: dass die Flüchtlinge begonnen hatten, ihre Hunde und Katzen zu essen; in einigen Tavernen lief sogar das Gerücht um, sie seien Kannibalen geworden und würden diejenigen verzehren, die an Krankheiten gestorben oder verhungert seien. Jeryd wusste, dass der Rat solches Gerede in Umlauf setzte, denn nur er durfte Blätter mit Nachrichten verteilen. Die Tore von Villjamur trennten nun diejenigen, die mit dem Tode rangen, von denen, die darum rangen, ihr bisheriges Leben ohne Abstriche weiterzuführen. Nur das Ringen an sich hatten beide Gruppen miteinander gemein.
    Jeryd würde Villjamur raschestmöglich verlassen. Dessen war er sich gewiss. Das Leben war zu kurz, um es in einer Stadt zu verschwenden, deren Regierung sich dazu hergab, die eigenen Bürger abzuschlachten. Er hatte genug Geld, um sich in eine andere Stadt des Kaiserreichs zu wagen, an einen Ort, wo es sehr viel ruhiger war. Vielleicht würde er in die Südfjorde ziehen, oder er könnte sogar mit den Kultisten handelseinig werden und eine Hütte auf Ysla errichten, wo das Klima so mild war. Wie auch immer: Sein Abscheu gegenüber dieser Stadt und sich selbst bedeutete, dass er hier wegmusste. Mit Marysa natürlich. Denn er liebte sie, und das allein zählte. Man ging durchs Leben, arbeitete hart und kaufte all das, von dem es hieß, man solle es sich anschaffen. Nachdem er diesem Lebensmuster lange gefolgt war, begriff Jeryd nun – und vielleicht zu spät – , dass er einen anderen Weg hätte einschlagen sollen.
    Erneut betrachtete er die eng aufeinanderhockenden Flüchtlinge. Wie genau wollte Urtica sie alle eigentlich umbringen? Wichtiger

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