Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
das auf seine Frage oder auf seine Handbewegung bezog.
»Ihr seht aus, als bräuchtet Ihr Hilfe.«
»Ich … ich weiß da etwas«, sagte sie schließlich und setzte sich. »Es ist ernst. Ich merke, dass ich … gestehen muss. Aber ich weiß nicht, wie Ihr reagieren werdet, und fürchte, dass er mich holen kommt.« Sie musterte ihn durchdringend. »Ich bin ganz verängstigt. An niemanden sonst kann ich mich wenden. Ihr seid gewiss der Einzige in dieser Stadt, dem ich vertrauen kann – Ihr wirkt so aufrichtig!«
Jeryd legte seine dunkelhäutige Hand auf ihre Rechte, die sich überaus zart anfühlte. »Ihr könnt mir trauen.« Er ging zur Tür, schloss sie ab und schürte ein Feuer im Kamin, um das kalte Zimmer anzuheizen. Dann schob er seinen Stuhl um den Schreibtisch herum, damit er neben ihr saß und sie merkte, dass er auf ihrer Seite war. »Erzählt mir, was los ist! Ihr sagtet, jemand verfolgt Euch?«
Sie schluchzte ängstlich. »Ich bin ihm entkommen, vorläufig wenigstens.«
»Wem?« Jeryd wollte ihr in die Augen sehen, doch sie wich seinem Blick ständig aus und schaute auf den Boden, den Schreibtisch, die Wände.
»Eurem ›Gehilfen‹ Tryst.«
Jeryd fuhr mit erschrocken gerunzelter Stirn zurück. »Weiter!«
Sie berichtete, was in den Wochen zuvor geschehen war: wie Tryst sie unter Drogen gesetzt und sie verprügelt hatte, als die Wirkung nachließ; dass sie die unheimliche Gabe besaß, Kunstwerke zu erschaffen, die zum Leben erwachen; dass Tryst dieses Geheimnis missbraucht und von ihr verlangt hatte, ein Ebenbild von Jeryds Frau anzufertigen, um dem Ermittler einen grausamen Streich zu spielen. Diesem Bericht folgte fassungsloses Schweigen, in dem nur das Prasseln des Feuers zu hören war. »Er hat Euch ein Stück weit gehasst, aber ich glaube, er wollte Euch bloß eine Lektion erteilen. Offenbar wusstet Ihr nicht, was er im Schilde führt, und da Ihr sein Feind zu sein scheint, dachte ich, Ihr könntet mir helfen.«
Sein Feind? , überlegte Jeryd missmutig.
Dann gestand sie zögernd den Mord an den Ratsherrn und enthüllte dabei, was Jeryd geargwöhnt hatte, aber nicht beweisen konnte: dass Mitglieder des Rats den teuflischen Plan entwickelt hatten, Tausende Flüchtlinge zu beseitigen.
In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Wie viel verwirrender und gefährlicher seine Welt plötzlich geworden war! Er begriff, dass Marysa ihn gar nicht betrogen und er ihr Ebenbild gesehen hatte. Trotz der enormen Erleichterung wurde zugleich die Schuld über das, was er ihr angetan hatte, unerträglich.
»Herr Ermittler?«, fragte Tuya.
Er sah sie an. »Entschuldigt, Miss Daluud! Ihr habt mir ungemein viel Neues berichtet, das nicht nur mich, sondern auch die Stadt, ja das Kaiserreich betrifft. Doch Ihr sagtet, Tryst könnte Euch verfolgen?«
»Ja … er hat mich gedemütigt und geschlagen.« Sie schluchzte auf und begrub das Gesicht in den Händen. Das erschien befremdlich bei einer Frau, die eben noch so viel Selbstvertrauen und Stärke ausgestrahlt hatte.
Jeryd nahm ihre Hände. »Erzählt mir noch einmal alles, wirklich alles, woran Ihr Euch erinnert!«
Was das geplante Gemetzel an den Flüchtlingen anging, wusste Tuya keine Einzelheiten und konnte nur sagen, wer im Mittelpunkt der Verschwörung stand: Kanzler Urtica schien in dieser Angelegenheit die treibende Kraft zu sein, doch wie er sein Ziel erreichen wollte, blieb ungewiss. Jeryd begriff, dass er weitere Mitarbeiter der Inquisition würde einweihen müssen – aber nur wenige, denen er trauen konnte. Wenn diese Sache bis in die Regierungsspitze der Stadt ging, wer mochte noch daran beteiligt sein? Konnte er es wagen, seinen Vorgesetzten diese Vorgänge zur Kenntnis zu bringen? Oder sollte er der Sache auf eigene Faust nachgehen? Was wären die jeweiligen Folgen? Und was Tuya anlangte: Sollte er sie verhaften oder laufen lassen? Tryst würde sie bald aufspüren, und Jeryd sah seinen Untergebenen nun in neuem, abschreckendem Licht. Er begriff, dass er Tuya vorläufig an einem sicheren Ort verstecken musste. Zu ihrem Besten. Aber sie hat gemordet . Das anscheinend jedoch nur, um das Niedermetzeln Tausender Unschuldiger zu verhindern. Mitunter war diese Stadt so böse und waren die Verhältnisse so schwierig, dass er wünschte, Villjamur ein für alle Mal verlassen zu können.
Er fasste einen Entschluss. »Macht Euch keine Sorgen! Vorläufig seid Ihr sicher – darum kümmere ich mich. Doch ich brauche Eure Hilfe.«
Jeryd hatte beschlossen, Tuya
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