Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
für den folgenden Tag anordnen. Alle Ovinisten im Rat stehen hinter mir. Morgen Abend beginnen einige Ovinisten aus der Armee, kleine Flüchtlingsgruppen im Stillen in die Stadt zu führen, wo sie ihr Schicksal erwartet. Sie nehmen die gefährlichen Tunnel unter der Stadt, und es macht doch wohl nichts, wenn sie verschüttet werden, oder? Sie werden glauben, vorläufig in der Stadt wohnen zu dürfen, und wir können sie endlich nacheinander vergiften. Zum Sterben schaffen wir sie dann in Tunnel nahe der Küste und versenken sie anschließend einfach im Meer. Tryst, Ihr sollt mir beistehen und Euch im Zentrum der Ereignisse aufhalten. Könnt Ihr das, Junge?«
»Selbstredend, Kanzler. Für Euch und die Ovinisten tue ich alles.« Tryst schluckte und senkte den Kopf ein wenig. »Eine Frage habe ich allerdings: Was ist mit den Banshees?«
»Was soll mit ihnen sein?«
»Bei so vielen Toten dürften ihre Klagen doch wohl zu viel Aufmerksamkeit erregen?«
»Das überlasst mir«, sagte Urtica finster und schritt kurz auf und ab. »Um den Rumel loszuwerden, schlage ich Sprengstoff vor. Aber lasst es nicht wie einen Anschlag aussehen. Ich kenne eine willfährige Kultistin, die Euch mit der nötigen Ausrüstung bewaffnet, Jeryds ganzes Haus in die Luft zu jagen – schließlich könnte der Ermittler seine Entdeckungen notiert haben. Verwendet eine Zeitschaltuhr, damit Ihr sicher aus der Gefahrenzone kommt. Um ein gutes Alibi kümmere ich mich.«
Tryst überkam ein seltsames Gefühl, und plötzlich wurde ihm übel. Er wollte Jeryd gewiss nicht umbringen. Sicher, er grollte dem alten Rumel, doch der sollte nur leiden. Ihn zu töten, ging zu weit. Doch er musste Urtica – dem Mann, der bald Kaiser sein würde – seine Loyalität beweisen.
Tryst war so tief in die Höhlen hinabgestiegen, dass er fürchtete, das Tageslicht nie mehr zu sehen. Urtica hatte ihm die Adresse einer allein arbeitenden Kultistin gegeben, die mitunter, sofern die Bezahlung stimmte, Leuten aushalf, ohne Fragen zu stellen. Die Sache war recht dubios.
Der Beutel mit dem Geld ließ ihn langsamer vorankommen als sonst. Bunte Laternen erhellten da und dort den Weg und beleuchteten Ratten und Hunde sowie Schmuddelkinder, die zwischen weggeworfenen Hühnerknochen spielten.
Schließlich erreichte er eine schmale, einsame Gasse, deren Wohnungen in den Fels gehauen waren. Nachdem er sich sorgfältig umgeschaut hatte, ging er zu der gesuchten Tür und klopfte rasch hintereinander dreimal an.
Als die Tür aufging, sah er sich einer alten Frau in dunkelroter Robe gegenüber. »Was willst du?«, fragte sie barsch.
»Der Kanzler hat mich geschickt«, erklärte er. Ihre Gesichtsfalten wurden noch knittriger, doch ihre Augen strahlten trotz des trüben Lichts.
»Urtica, ja?«, fragte sie offenkundig interessiert.
Tryst zog den Beutel mit Geld hervor. »Ich brauche noch heute Abend ein paar Relikte.«
Sie musterte erst den Beutel, dann ihren Besucher. »Komm erst mal rein.«
Dutzende dicker Kerzen erhellten das Zimmer. Um den Tisch in der Mitte zu erreichen, musste Tryst sich zwischen auf dem Boden gestapelten Büchern hindurchschlängeln. Auf Regalen standen Flaschen, in denen seltsame Dinge aufbewahrt wurden, vielleicht Organe miteinander gekreuzter Tiere, und er hätte schwören können, dass sich eins davon bewegte.
Er setzte sich auf den ihm zugewiesenen Stuhl und legte den Beutel mit Geld auf den Tisch. Sie wandte sich einem Spiegel zu, nahm die Kapuze ab und strich sich mit den Fingern die langen grauen Strähnen aus dem Gesicht. Ihr Verhalten hatte etwas durchaus Kindliches. Schließlich kam sie an den Tisch und ließ sich ihm gegenüber nieder. Ihre blauen Augen betrachteten ihn ebenso zart wie eindringlich, als hielte sie ihn für jemanden aus ihrer Vergangenheit. »Was brauchst du?«, fragte sie.
»Genug Brenna , um ein Haus zu zerstören. Und seinen Bewohner.«
»Dafür dürften vier kleine Relikte reichen.«
»Ihr müsst mir zeigen, wie man sie einsetzt. Ich bin den Umgang damit nicht gewöhnt.«
Sie beugte sich vor, und ihre alten Augen funkelten. »Keine Sorge, Junge – ich helf dir schon.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen.« Plötzlich war er etwas nervös, als hätte sich der Charakter des Gesprächs geändert. »Die Relikte sollen aber zeitverzögert hochgehen. Könnt Ihr dafür sorgen?«
Unerwartet sagte sie: »Hier unten bekomme ich nicht oft jemanden zu sehen, der so … hübsch ist.«
»Danke«, murmelte Tryst. »Verzeihung, ich
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