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Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Titel: Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
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auf jemand Normalen scharf war, hatte ihr diese Rezeptur vor seinem Tod verraten. Die Substanz war körnig und trüb, und er hatte sie sorgfältig über all ihre Eigenschaften unterrichtet. Das Mittel war so kostbar wie alle anderen alten Relikte der Kultisten und vielleicht ursprünglich von den Dawnir gemahlen worden. So jedenfalls behauptete es der Mythos. Und Mythen reichten in Villjamur meist weiter als erwünscht.
    Von Zeit zu Zeit schloss sie die Augen und ließ sich von der kalten Luft belebend umspielen. Sie konzentrierte sich und löste den Verstand von dem, was sie malte, um es anders wahrzunehmen. Im Leben ging es nur um Wahrnehmung, und Kunst war ihr wichtig. Vielleicht empfanden die Leute, die an ihrem Fenster vorbeikamen oder sich ihres Körpers bedienten, es anders, doch für Tuya war selbst die kleinste Gelegenheit, sich auszudrücken, etwas schlicht Wundersames.
    Das Geschöpf, das sie sich vorstellte, nahm langsam Gestalt an.
    Es war eine Art Pterodette – etwa ebenso groß und mit Fledermausflügeln – , zugleich aber ein Säugetier. Blau war es einfach darum, weil sie heute diese Farbe gewählt hatte. Obwohl das Wesen nur so groß wie ein Kind war, hatte sie ihm eine starke Muskulatur gegeben, mit der es vermutlich Türen einrennen konnte.
    Erst als die Glocke erneut schlug, war sie vorderhand mit ihrer Arbeit zufrieden. Noch brauchte das Werk nicht präzise zu sein, doch letztlich würde es seine wahre Gestalt annehmen.
    Sie stand auf und trat ans Fenster. Im Glasturm des Astronomen spiegelte sich das grelle Sonnenlicht.
    Sie drehte sich um und betrachtete ihr Gemälde erneut. Kein Zweifel: Ihre Schöpfung erwachte zum Leben. Das blaue Wesen pulsierte nahezu, als söge es Luft in seinen doch nur gemalten Körper. Nun wandte sie sich dem Hintergrund zu, dem Lebensquell des Geschöpfs, und rief abstrakte Gedanken auf, die seine Seele nähren würden. Mächtige Triebe drängten sich in ihrem Kopf, die Sehnsucht, in die Ferne zu fliegen und den Boreal-Archipel zu erkunden, das Land der Roten Sonne. Vielleicht, um eine Art Freiheit kennenzulernen …
    Plötzlich löste das Wesen sich mit raschen Schwüngen von der Leinwand, strebte aufwärts, schüttelte sich …
    … und fiel zu Boden.
    Tuya lachte und gurrte, als sie ihr Geschöpf aufhob und aufs Fenstersims legte. Dort kroch es herum, erhob sich auf alle viere und breitete die Flügel aus. Tuya schrie entzückt. Sie wusste nicht, wie ihr das jedes Mal gelang, und um ehrlich zu sein, interessierte es sie auch nicht sonderlich. Ihre Kunst spiegelte das Leben nicht nur, sondern erschuf es.
    Das Geschöpf schlug mit den Flügeln und schwang sich aus dem Fenster. Ein Windstoß ließ es eine andere Richtung nehmen, und es trieb über die Türme und fort von Villjamur und ließ Tuya einmal mehr mit dem altvertrauten Gefühl der Einsamkeit zurück.
    Schließlich entdeckte Randur die Tür, einen unauffälligen Eingang in einer unscheinbaren Straße. Rein gar nichts wies darauf hin, dass sich dahinter eine Oase für Kultisten verbarg. Er hätte ein paar Inschriften im bleichen Gemäuer um die Tür herum erwartet, kunstvolle Ornamente oder etwas anderes, als Hinweis darauf, dass es sich um ein Gebäude des Dawnir-Ordens handelte, des ältesten und größten Ordens. Oder eine hübsche Tafel. Doch es gab nur eine nackte Mauer und eine Blumenampel mit Grasnelken. Ein Stadtwächter ritt vorbei, und sein kurzer Seitenblick ließ Randur sich schuldig fühlen.
    Er klopfte.
    Die Luke öffnete sich, und ein Männergesicht tauchte auf. »Ja?«
    Randur hielt seine Münze hoch. »Ich suche jemanden namens Papus.«
    Der Mann starrte auf die Münze. »Wartet!«
    Die Tür ging auf, und der Pförtner winkte ihn herein. Er trug einen schwarzen Umhang und darunter eine dunkle, eng anliegende Uniform fast militärischen Zuschnitts.
    »Wartet hier!«, befahl er Randur und schritt davon.
    Das Zimmer war dunkel, doch Randur erkannte reich verzierte Holzvertäfelungen und einige gerahmte Zeichnungen an der Wand. Räucherstäbchen schufen eine seltsam behagliche Atmosphäre. Hier war es recht ähnlich wie in Bohrs Kirche, die im Namen des Kaiserreichs auf Folke errichtet worden war.
    Kurz darauf kam der Mann mit einer dicken Blonden zurück, die genauso gekleidet war wie er. Zu zweit durchsuchten sie Randur nach Waffen und drückten ihn dann auf einen Stuhl.
    Sie erkundigten sich, was ihn nach Villjamur geführt habe, und wollten wissen, warum er Papus zu sehen wünsche.
    Erneut

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