Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Dawnir. »Die Zeiten sind spannend.«
»Wie stets«, pflichtete Brynd ihm bei und sah zu, wie er die Tür schloss. Der Dawnir überragte ihn um Armeslänge, hatte einen braunen Schopf und trug ein schlichtes Leinengewand.
Stets schien er ein wenig zu kauern, vermutlich, weil niemand so groß war wie er. Seine Augen glichen schwarzen Bällen, die tief in seinem schmalen, ziegenartigen Kopf saßen; seine beiden Stoßzähne waren eine knappe Elle lang.
»Wie geht es Euch, Jurro?«, fragte Brynd. »Ich erhielt die Nachricht, Ihr wolltet mich sehen.«
Der Dawnir wies mit unglaublich langer Hand auf einen Stuhl. An drei Wänden reichten die Bücherregale bis unter die Decke, und auch auf den einfachen Holzmöbeln stapelten sich die Bände. Manche waren herrlich eingebunden, andere dagegen schon sehr abgewetzt.
Auf einem Tisch lag ein totes Schaf, dessen beißender Geruch den Raum erfüllte.
»Räucherstäbchen würden nicht schaden«, brummte Brynd.
Nach einem mächtigen Stirnrunzeln erwiderte Jurro: »Ah, ein Scherz! Sehr gut, Brynd Lathraea, sehr gut. Ironie nennt sich das, nicht wahr?«
Brynd lehnte sich im Stuhl zurück und nahm ein Buch zur Hand, stellte aber fest, dass es in einer Sprache geschrieben war, die er nicht kannte. Die Buchstaben ließen vermuten, dass es aus Boll oder Tineag’l oder von einem anderen Außenposten des Kaiserreichs stammte.
»Das ist eine Geschichte des Tanzes auf Folke«, erklärte Jurro.
»Die Schrift sieht nicht so aus, als käme das Buch von dort.«
»Allerdings, Brynd Lathraea. Es wurde vor über tausend Jahren verfasst, und Sprache wandelt sich.«
Brynd schürzte die Lippen und legte das Buch beiseite.
»Ich habe es mir wegen des Schnee-Balles angesehen, den der Adel und die Rumel ausrichten werden. Ich hoffe sehr, dass ich dieses Tanzfest werde besuchen können.«
»Warum sollte das nicht gehen? Schließlich seid Ihr hier kein Gefangener.«
»Allerdings nicht, aber mitunter fühle ich mich wie einer. Und viel echten Besuch bekomme ich auch nicht; es tauchen fast nur Leute auf, die sich Hilfe bei ihren unwichtigen Problemen erhoffen. Und doch bin ich kein Orakel. Ich vermag nicht zu zaubern. Und selbst wenn ich es könnte … « Der Dawnir verstummte und stellte das Buch in ein Regal zurück.
»Und was macht Euer Studium?«
»Nichts Neues. Keine Offenbarungen. Diese Texte über den Boreal-Archipel sind dennoch faszinierend. Sie enthalten viele Ungereimtheiten, was mich vermuten lässt, dass die Geschichte tiefer geht als angenommen und ganz unbekannte Seiten enthält. Und ich habe durchaus … Zeit. Ich bin nicht in Eile. Die Bücher über die früheren Eiszeiten sind wirklich interessant. Diese Kälteperioden scheinen vielen Hochkulturen ein Ende bereitet zu haben. Ich verstehe also, warum der Rat so besorgt ist.« Der Dawnir schob einen gepolsterten Eisensessel heran, ließ sich mit donnerndem Seufzer darin nieder und hielt ein ledergebundenes Buch von der Größe einer kleinen Tischplatte hoch. » Das Buch von den Wundern der Erde und des Himmels – es beschreibt ausführlich weit zurückliegende Zeitalter, die man bisher ins Reich der Legende verwies. Heute habe ich gelesen, dass unsere Wälder einst gänzlich verloren waren. Heute nennen wir Bäume bei den Namen, unter denen ihr Samen unter der Erdoberfläche deponiert worden war. Erneut habe ich gelesen, dass unsere Sonne einst viel gelber war. Falls das stimmt, verliert sie an Strahlkraft und stirbt langsam. Wie wohl zu erwarten war, enthält auch dieses Buch leider nichts über meine Ursprünge. Es ist ein Jammer.«
Brynd hatte schon viele weitschweifige philosophische Vorträge von Jurro gehört. Es hieß, dieses Geschöpf lebe seit über tausend Jahren in der Stadt, also fast so lange, wie sie den Namen Villjamur trug. Das jedenfalls behauptete Jurro. Er war entdeckt worden, als er ohne jede Erinnerung die vereiste Küste Nordjokulls entlangstrich. Da er so alt geworden war, galt er inzwischen als unsterblich, doch Brynd fragte sich missmutig, wie es sein mochte, so lange zu leben und nichts über seine Herkunft zu wissen. Er selbst hatte in dieser Hinsicht etwas mit dem Dawnir gemein, denn er war als Kind von reichen Eltern adoptiert worden und hatte deshalb auch keine echten Vorstellungen von seinen Ursprüngen. Aber wer wollte schon wissen, woher ein Albino stammte?
»Und wie steht es mit Eurer Gesundheit? Fühlt Ihr Euch wohl?«, fragte Brynd.
»Nein, ich brauche mehr Bewegung. Ich beneide Euch
Weitere Kostenlose Bücher