Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
ansehen müssen. Er versuchte, sie zu überzeugen, dass es nicht ihre Schuld, sondern ein Unfall gewesen war. Sie hatte nicht offen geweint, doch als Brynd sie holen gekommen war, hatte er sie durch ihre Zimmertür hindurch schluchzen hören.
Dann aber war sie denkbar elegant und gefasst zu ihm herausgetreten.
Nach dem Weggang ihrer älteren Schwester Rika vor vielen Jahren war Eir ruhiger und ziemlich verschlossen geworden. Es wäre sicher besser für sie gewesen, nicht mit Johynn und seinem immer schlechteren Zustand zurechtkommen zu müssen, jedenfalls nicht in ihrem jugendlichen Alter. Brynd fragte sich, ob sie den Tod ihres Vaters letztlich nicht als enorme Befreiung empfand.
Endlich gingen die großen Eichentüren des Saals auf, und die beiden wurden hineingerufen.
Der Saal war weiß und hatte eine hohe Kuppel und einen Durchmesser von etwa fünfzig Schritten. Die fünfundzwanzig Ratsherrn, die je einen der auf alten Stadtplänen Villjamurs verzeichneten Bezirke vertraten, saßen kreisförmig und erhöht auf Bänken um sie herum.
Das Gremium hatte den Großteil des Tages hinter verschlossenen Türen beraten und beunruhigt die Folgen von Jamur Johynns Tod erwogen. Der Rat hatte angeordnet, die sterblichen Überreste rasch zu beseitigen. Bisher hatte die breite Stadtbevölkerung noch nicht erfahren, dass der Kaiser sich umgebracht hatte. Palastdienern war für den Fall, dass sich Gerüchte in den Balmacara zurückverfolgen ließen, mit Folter- und Todesstrafe gedroht worden.
Brynd und Eir nahmen schweigend auf einem geschätzten Gästen vorbehaltenen Holzpodium am anderen Ende des Saals Platz, wobei Brynd sich freilich eher als Gefangener fühlte. Ins Podium war das Emblem des Kaiserreichs Jamur geschnitzt: ein siebenzackiger Stern.
Ein leises Murmeln lief durch die Ratsversammlung.
Eir war schlicht gekleidet und trug eine schwarze Trauerrobe unter einem dunkelroten Umhang. Brynd hatte die Gelegenheit genutzt, sich von den Narben, dem Schmutz und den Erinnerungen an den Hinterhalt in Dalúk zu befreien, und trug eine blitzsaubere, komplett schwarze Uniform.
Zwar hatte er sich im Laufe der Jahre das Vertrauen des Kaisers erarbeitet, doch war er sich nie sicher, wie das Parlament darauf reagieren würde, dass er ein Albino war. Was die Ereignisse in Dalúk anging, hatte Brynd die Ratsherrn durchaus in Verdacht. Wenn er sie aufmerksam musterte, würde der Blick des einen oder der anderen vielleicht Schuld verraten.
Als Kanzler Urtica sich erhob, wurde es still.
Brynd betrachtete ihn mit heimlicher Verachtung. Einem Mann, der – wie es gerüchtweise hieß – in seiner Jugend ein Jahr lang als Lehrling Gift für einen Foltermeister der Inquisition gemischt hatte, war nicht wirklich zu trauen. Urtica war ein dunkelhäutiger und gut aussehender Mann in den Vierzigern, und trug sein ergrauendes schwarzes Haar sehr kurz geschnitten. Die Ratsuniform – eine grüne Tunika mit grauem Umhang – kleidete seinen schlanken Körper bestens.
»Jamur Eir, Kommandeur Lathraea, willkommen im Rat«, begann er mit glatter, tiefer Stimme. »Wie Ihr Euch denken könnt, haben wir unsere missliche Lage erörtert, und ich möchte sofort darauf zu sprechen kommen, was wir beschlossen haben. Es dürfte Euch nicht überraschen, dass wir Jamur Rika, die ältere Tochter des verstorbenen Kaisers, in die Stadt zurückbringen möchten. Natürlich entspricht es Gesetz und Sitte, dass der nächste ältere Verwandte den Thron erbt, damit es eine ununterbrochene Befehlskette gibt, wie unser göttlicher Vater Bohr es angeordnet hat. Jamur Rika hat Kaiserin von Villjamur zu werden, weil sie – wie wir glauben – in diesen unsicheren Zeiten die angemessenste Wahl ist.«
Brynd hatte einen solchen Zug vorhergesehen.
»Kommandeur, wir betrauen Euch nun damit, Lady Rika umgehend von den Südfjorden zurückzugeleiten. Damit dürftet Ihr einige Tage beschäftigt sein, und bei Eurer Heimkehr soll es ein Fest geben, das Trauer- und Jubelfeier zugleich ist. Wir haben dies als positive Entwicklung, nicht als Krise zu sehen. Als Vorsitzender dieses Gremiums werde ich die neue Kaiserin in jeder Phase beraten. Wir freuen uns darauf, sie bald als neue Regentin zu begrüßen.«
Und ob ! dachte Brynd grimmig. Du wirst Unkenntnis und Unschuld des armen Mädchens nutzen, um all die eigennützige Politik durchzupeitschen, von der du je geträumt hast.
»Kommandeur«, fuhr Urtica fort, »wir haben alles für Eure unverzügliche Abreise vorbereitet. In
Weitere Kostenlose Bücher