Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Stattdessen wurden die nördlich der Privatgemächer des verstorbenen Kaisers in die Klippen getriebenen Kasernen oft von nur zwei Nachtgardisten bewohnt, die der Kaiser im Notfall rufen konnte. Zwar erinnerte Brynd sich nicht an solch einen Fall, doch es war eine kluge Vorsichtsmaßnahme.
Als Kommandeur bewohnte Brynd die prächtigste Wohnung, die von den übrigen Unterkünften etwas abgerückt war. Er mochte ihr Dekor, diese Mischung aus poliertem Marmor, Schiefer und purpurnen Wandvorhängen. Für den Fall, dass er rasch etwas nachschauen musste, waren hinter den Stoffen Landkarten der ausgedehnten Hoheitsgebiete des Kaiserreichs versteckt. Oft half ihm in schlaflosen Nächten, die Länder zu studieren, die er zu schützen hatte. Das stärkte das Pflichtgefühl. Am Spiegel seines Ankleidetischs hingen militärische Orden.
Dann bemerkte er den für ihn bestimmten Brief auf einem Beistelltisch. Er entzündete eine Laterne und öffnete das Schreiben, in dem Kanzler Urtica ihm bis ins Detail mitteilte, wo Jamur Rika nahe der Siedlung Hayk in den Südfjorden lebte, und zudem bekräftigte, vor Brynds Abreise mit dem Kommandeur sprechen zu wollen, um mehr über den verheerenden Hinterhalt in Dalúk zu erfahren.
Es beunruhigte Brynd, nun Zeit zu haben, um mit den Todesfällen in seinem Regiment ins Reine zu kommen und zu ermitteln, wer für den Hinterhalt verantwortlich war. Solche ruhigeren Augenblicke sind für Soldaten schwierig, weil die Grausamkeiten, die sie gesehen haben, ihnen immer wieder im Kopf herumgehen. Er würde dafür sorgen müssen, dass den Familien der toten Soldaten Kondolenzbriefe zugingen – es gab noch so viel zu tun, und er musste die Stadt schon früh am nächsten Morgen verlassen. Brynd setzte sich an den Tisch, um für einige Stunden Schreibarbeiten zu erledigen.
Der Kommandeur hielt inne, um nach der Uhr zu sehen. Nicht einmal eine Stunde war vergangen, und er war nicht besonders müde, entschied aber, die Briefe könnten warten. Er brauchte frische Luft und ein wenig Entspannung. Vielleicht hatte Apium ja recht, und er nahm das Leben zu schwer. Der Druck begann ihm zuzusetzen.
Er zog die Uniform aus, schlüpfte in ein unauffälliges braunes Gewand, warf sich einen Kapuzenumhang um und ging eilig in die kühle Nacht hinaus.
Brynd klopfte. Die Dunkelheit hatte etwas Erstickendes, denn es war eine der Nächte, in denen er den Eindruck hatte, auf Schritt und Tritt überwacht zu werden.
Dann wäre sein Geheimnis verraten.
Und er würde auf der Stadtmauer hingerichtet werden.
Er stand vor einer unverdächtigen Tür nahe der Gulya Gata, nicht weit von dort, wo Maler der Galerie sich üblicherweise mit Dichtern in den Bistros der Cartanu Gata und der Gata Sentimental herumdrückten. Hinter dem an einer übersichtlichen Straße gelegenen schlechten Hotel war es stets belebt: plötzliches Gelächter, verhallende Schritte, klirrendes Glas, kratzendes Metall. Je nach Stimmung der Stadt konnte das Trunkenheit, Sex oder sogar Mord heißen. Solche Geräusche deutete jeder gemäß seiner Verfolgungsangst – Villjamur war nicht zuletzt ein Bewusstseinszustand.
Die Tür öffnete sich, und ein schlanker junger Mann in dünnem Morgenrock tauchte auf. Er hatte hohe Wangenknochen, schmale Lippen und ein verruchtes Lächeln, von dem Brynd sich nie lange fernhalten konnte. Der junge Mann fuhr sich mit den Fingern durchs glatte schwarze Haar. »Wenn das nicht mein großer Kriegsheld ist! Hab dich schon eine ganze Weile nicht gesehen.«
»Ich hatte eine furchtbare Woche«, flüsterte Brynd und schlug die Augen nieder; er weigerte sich gewissermaßen, sich in den Augen seines Gegenübers gespiegelt zu sehen.
»So siehst du auch aus«, sagte Kym. »Echt furchtbar. Und nicht mal in Uniform bist du gekommen. Du bist mir vielleicht ein Penner – aber ich kann damit leben.«
»Falls jemand uns erwischt, wenn ich Uniform trage, werden wir beide gehängt. Und stell dir vor, wie meine Einheit reagiert, wenn sie die Wahrheit über mich erfährt. Meine Kameraden sind ohnehin schon argwöhnisch.« Keine Frau zu haben, erregte in der Regel Verdacht, aber immerhin lieferte sein Albinismus ihm eine Entschuldigung, hinter der er sich verstecken konnte.
»Du fühlst dich bloß wegen deiner Hautfarbe verfolgt, Süßer«, erwiderte Kym. »Also sei nicht so verklemmt. Den Leuten bist du sehr viel gleichgültiger, als du glaubst.«
»Ich bin nicht hier, um zu debattieren.«
»Dann solltest du reinkommen.«
Brynd war
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