Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
und brummten recht hübsch. Jeryd bewunderte sie leicht angewidert. Für gewöhnlich waren sie harmlos und traten nur zu zweit oder zu dritt auf, denn die Pterodetten hielten ihre Zahl gering. Ob diese riesigen Insekten ein gemeinsames Bewusstsein besaßen? Jeryd immerhin hatte im Vorjahr einen seltsamen Vorfall untersucht, bei dem ein abgehalfterter Kultist, der nun als Illusionskünstler arbeitete, sich von einigen dieser Geschöpfe beim Schweben hatte unterstützen lassen. Eines Abends hatten sie ihn angehoben, zum Fenster geflogen und zu Tode gestürzt, ohne dass die Zuschauer sonderlich bekümmert gewesen wären.
Der Ermittler und sein Gehilfe kamen an eine niedrige Tür in einer unauffälligen Kalksteinwand. So aufgeputzt die Oberstadt meist war: Diese Durchgangsstraße war ungemein schlicht. Vielleicht stammte das noch aus früheren Tagen, denn immerhin hatte die Stadt ihr Gesicht unzählige Male geändert.
Jeryd klopfte, wandte sich zu Tryst um und meinte: »Das wird uns hoffentlich ein paar Spuren bringen.«
Tryst schwieg.
»Gestern Abend war das große Treffen, oder?«, fragte Jeryd, lehnte sich an die Mauer und verschränkte die Arme.
»Ja, es war nett«, murmelte Tryst, »aber wir haben uns beim Abschied nicht geküsst.«
»Es muss doch nicht immer mit einem Kuss enden! Seid froh, Euch zum Schluss keine Ohrfeige gefangen zu haben.« Er klopfte erneut.
Diesmal ging die Tür auf, und ein Mann mit ausgezehrtem Gesicht winkte sie herein. Seine weiße Kittelbrust war beunruhigend rot gefleckt. »Tut mir leid, dass ich die Herren habe warten lassen, doch ich war gerade dabei, eine Leiche zu waschen. Ich bin Doktor Tarr, und es freut mich, Euch kennenzulernen.« Er hielt ihnen seine runzlige Hand entgegen.
Jeryd betrachtete sie unentschlossen und stellte sich und Tryst vor. Das also war Tarr, ein Mann, der täglich mit Toten zu tun hatte. Jeryd fragte sich, ob er so vergnügt oder unnahbar wie die anderen Ärzte war, mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte. Sie waren auf jeden Fall ein seltsamer Haufen, diese Leute, die ihre Tage freiwillig fern der Lebenden verbrachten.
»Es ist spannend, Euch endlich zu begegnen, nachdem ich in den letzten Jahren so viele Eurer gerichtsmedizinischen Gutachten gelesen habe«, sagte Jeryd. »Interessant auch, dass wir uns anlässlich der Ermordung von Ratsherr Ghuda sehen, die zweifellos meinen wichtigsten Fall darstellt.«
»Ja, ja, Delamonde Ghuda ist ein überaus spannender Fall.« Doktor Tarr bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
Der halbdunkle Raum, in den sie kamen, besaß keine Fenster, sondern wurde nur von Laternen beleuchtet. Aufgrund der vielen getrockneten Blumen und Kräuter war der Gestank nicht so schlimm wie erwartet. Aus einem Nebenraum kam leise Musik. »Ihr beschäftigt hier einen Musiker?«, fragte Jeryd erstaunt.
Doktor Tarr blieb stehen. »Aber natürlich.« Er warf dem Ermittler einen fast ungläubigen Blick zu. »Meinen Patienten würde es nicht gefallen, wenn ich unseren Lautenspieler entließe.«
»Patienten?« Jeryd sah skeptisch drein. »Ich dachte, wir wären hier im Leichenhaus?«
»Stimmt, Herr Ermittler. Doch ich bevorzuge eine wohltuende Atmosphäre, sogar für die Toten. Er ist nicht der beste Musiker, doch die Leute müssen angesichts der harten Zeiten, die uns bevorstehen, Geld verdienen.«
»Allerdings«, gab Jeryd zurück und glaubte, durch das Lautenspiel hindurch ein leises Geräusch zu hören. Womöglich das Summen eines Relikts, das die Arbeit hier unterstützte? Er musterte Tarr im Licht der Laterne. Der Arzt war über fünfzig und hatte einen leichten Buckel, ein verwittertes Gesicht, schütteres blondes Haar und feingliedrige Finger.
Tarr führte seine Besucher in eine gut beleuchtete Kammer, auf deren steinernem Seziertisch Delamonde Ghudas nackter Leichnam unter einem weißen Laken lag.
Jeryd und Tryst standen zuseiten des Toten, als der Arzt das Laken zurückschlug.
»Wie ich in meinem Gutachten ausgeführt habe, Herr Ermittler, sind diese Wunden überaus rätselhaft. Ich habe nie etwas Vergleichbares gesehen.«
»Berichtet mir bitte, was Ihr herausgefunden habt.«
»Nun, nichts ist in den Körper eingedrungen , doch wie Ihr seht, fehlt eine Menge Fleisch. Offenbar ist hier Gewebe verschwunden.« Tarr wies auf eine Zone zwischen Halsansatz und unterem Brustbein.
»Was meint Ihr mit ›verschwunden‹?«
»Es ist weg, ohne dass ein scharfes Werkzeug im Spiel gewesen wäre. Ich kann Euch keine einleuchtende
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