Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Erklärung dafür geben, weil mir so etwas nie begegnet ist. Das hier sieht ganz anders aus als eine gewöhnliche Messerverletzung, die natürlich einfach zu erkennen ist. Deshalb wollte ich, dass Ihr vorbeischaut, um Euch mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wie interessant dieser Fall ist. Es sieht aus, als hätte ein unbekannter Stoff das Fleisch entfernt, es verzehrt oder explodieren lassen. Die Wunde ist fast kreisförmig, aber als Verbrechen lässt sich das Ganze erst einstufen, wenn man weiß, welches Werkzeug diese seltsame Wunde herbeigeführt hat.«
Während Doktor Tarr weiter über verschiedene Ursachen spekulierte, ging Jeryd auf, dass er seine Zeit vertat. Er würde in den Ratssaal gehen und herausfinden müssen, ob der beliebte Delamonde Ghuda heimliche Feinde hatte. Der Arzt versenkte sich unterdessen immer tiefer in medizinische Analysen. Jeryd wollte weg, da Tarr ihm auf die Nerven ging. Der Lautenspieler verstärkte die unheimliche Atmosphäre nur.
»Möchtet Ihr noch ein paar Opfer gezeigt bekommen?«, fragte Tarr. »So könnt Ihr Euch davon überzeugen, dass deren Wunden ganz anders aussehen.«
»Nein, danke«, erwiderte Jeryd.
»Ich zeige Euch nur rasch eine weitere Leiche.«
Er zeigte ihnen vier.
Sie traten in einen Raum voll kürzlich eingelieferter Toter. Viele waren Männer über dreißig mit friedlicher Miene und furchtbaren Wunden. Zwei waren Schwerthieben erlegen, einer Keulenschlägen, und der Vierte war offenkundig erst kurz vor Jeryds Ankunft gestorben.
Tarr war geradezu von Mutterstolz erfüllt. »Dieser hat Gift genommen«, erläuterte er neben einer auf ein Podest gewuchteten Leiche. »Doch nicht das Gift hat ihn getötet: Er ist an seinem Erbrochenen erstickt. Beachtet das geronnene Blut an den Fingerspitzen: Er hat in seinen letzten Sekunden über den Steinboden gekratzt, auf dem er zusammengebrochen war.« Tarr schüttelte bewegt den Kopf und schien den Toten streicheln zu wollen, um ihn zu trösten.
Es schauderte Jeryd.
Schließlich begegneten sie dem Lautenspieler, einem jungen Mann, der in einem der vielen Zimmer auf einer Kiste in der Ecke saß. Das ganze Leichenhaus war ein Labyrinth aus kleinen Kammern, dessen Verästelung Jeryd an eine Lunge erinnerte. Warum ist der Musiker tatsächlich hier? Um Todesschreie zu übertönen?
»Wir müssen jetzt wirklich los«, erklärte er.
Tarr heftete seinen Blick auf den Ermittler. »Ihr kommt uns hoffentlich wieder einmal besuchen. Nur wenige scheinen sich in Gegenwart von Toten so wohl zu fühlen wie Ihr.«
»Mein Gehilfe und ich sind Leichen so ziemlich gewöhnt. So ist das mit Ermittlern.«
»Viel zu viele lassen sich nur ungern daran erinnern, dass das Leben kürzer zu sein pflegt, als wir es gern hätten.«
»Manche halten es für zu lang«, erwiderte Jeryd. »Selbstmorde sind weit weniger selten, als man denkt – zumal die Eiszeit naht und viele Familien wegen der mangelnden Unterbringungsmöglichkeiten in der Stadt zerrissen sind.«
Tarr ging zu einer jungen Frau und betrachtete sie. »Die hier wurde vergewaltigt, niedergemetzelt und auf ihrer Türschwelle liegen gelassen.« Ihr Gesicht war bleich und wirkte ruhig, als wäre der Tod nach den Schrecken, die ihm vorausgegangen waren, eine Erleichterung gewesen. »Was für eine Verschwendung das jedes Mal ist! Nur wenige wissen das Leben wirklich zu schätzen. Wenn uns klar wäre, dass der Tod uns jeden Moment dahinraffen kann, meint Ihr, wir würden dann Zeit mit Streitereien, Kämpfen oder Müßiggang vertun?«
»Man kann Menschen nicht zwingen, das Leben zu lieben«, gab Jeryd zurück. »Das müssen sie mit sich selbst abmachen. Und ich vermute, auch Rumel wollen nicht an den Tod denken. Das alles wäre für viele von uns viel zu ernüchternd. Aber jetzt müssen wir wirklich los. Gebt mir doch Bescheid, wenn Ihr etwas von uns braucht. Guten Tag, Doktor Tarr!«
Tarr sah den Ermittlern nach, schloss die Tür, ging wieder in die Obduktionsräume und wandte sich an den Lautenspieler: »Ihr könnt aufhören. Sie sind weg.«
Nun summte es deutlich lauter. Der Musiker verschwand im Dunkeln, und Tarr wartete, bis das Geräusch aufhörte.
Dartun Súr betrat das Zimmer.
Der Kultist hatte im Gebäude gearbeitet – wo genau, wusste der Arzt nicht. Vielleicht war es ja sein seltsamer Umhang, der ihm erlaubte, sich so gut im Dunkeln zu verbergen. Tarr spürte, wie die Nähe des groß gewachsenen Mannes auf ihm lastete.
»Lieber Doktor, Ihr habt unserem Ermittler eine
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