Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
nicht, was er von ihr halten sollte, da er den Mitgliedern der Jorsalir-Religion nicht traute. Nicht, dass sie an sich unzuverlässig waren, doch sie waren es gewohnt, auf einer anderen Ebene zu denken und Fragen an die Welt zu stellen, die niemand sonst formulierte. Das gab ihnen ein Gefühl von Überlegenheit, das er für ungerechtfertigt hielt.
Die Priesterin führte ihn in den Tempel.
Rikas Zimmer enthielt nur die nötigsten Möbel. An der Wand hingen ein paar im Sonnenlicht verblasste Pergamente, und die Stoffe dufteten nach Lavendel. Der Kalkstein war gedunkelt, und in der Ecke brannte ein kleiner Kamin. Sollte es Bohr oder Astrid tatsächlich geben, kam es ihnen offenbar nicht auf aufwändig gearbeitete Möbel an.
Rika saß auf einer Truhe und sah aus einem schmalen Bogenfenster. Das Buch in ihrem Schoß war vergessen. Sie war eindeutig Eirs Schwester, obwohl ihr Gesicht schlanker war, was die Wangenknochen ein wenig unvorteilhaft zur Geltung brachte. Ihr schwarzes Haar war glatt zurückgebunden. Ihr ganzes Auftreten hatte keinen Stil, keine Finesse.
»Jamur Rika, Sele von Jamur! Ich bin Kommandeur Brynd Lathraea und habe einige … schlechte Neuigkeiten für Euch, wie ich fürchte.« Er zögerte. »Euer Vater, Kaiser Johynn – er ist leider vor wenigen Tagen gestorben.«
»Oh!«, gab Rika zurück. Ihre Stimme klang gefühllos. »Tja, danke, dass Ihr mir das mitteilt. Es ist wirklich sehr nett von Euch, deswegen die lange Reise gemacht zu haben.«
Brynd nahm den Blick nicht von ihren Augen, als wollte er herausfinden, was in ihr vorging. Die schlechte Nachricht schien sie kaum beunruhigt zu haben. Er hätte ihr genauso gut sagen können, dass es heute regnen würde. Er wusste, dass sie Schwierigkeiten mit ihrem Vater gehabt und deshalb die letzten Jahre hier im Exil gelebt hatte. Ließ die alte Wut auf den Vater auch jetzt keine anderen Gefühle zu? Oder lag es an ihrer religiösen Unterweisung? Hatte ihr völlig beherrschtes Denken all ihre Gefühle absterben lassen?
»Der Rat von Villjamur hat Euch zur Alleinerbin Eures Vaters bestimmt, da Ihr seine älteste Blutsverwandte seid. Begreift Ihr, was das bedeutet?«
Wortlos und mit kaltem Starren begegnete sie seinem Blick – nein, mit einem ganz unbeteiligten Starren. Dieses Mädchen schien die Verkörperung der Leere zu sein.
»Jamur Rika, Ihr werdet Kaiserin«, fuhr Brynd fort, »Herrscherin über das Reich und über alle seine Länder und Bewohner. Ich bin daher auf Anordnung des Rats gekommen, um Euch umgehend nach Villjamur zurückzubringen.«
Sie stand auf und sah wieder aus dem Fenster – auf das Meer und die Wolken. Möwen stiegen schreiend zum Himmel empor. In der Natur ringsum war mehr Leben als in ihrem Herzen. »Und welche Wahl habe ich in dieser Angelegenheit?«
»Wünscht Ihr eine ehrliche Antwort?«
»Ja.«
»Praktisch keine.« Er seufzte. »Ihr habt eine Pflicht zu erfüllen.«
»Ich habe hier auch ein Leben, Kommandeur.«
»Das ist mir nicht entgangen«, erwiderte Brynd, trat einen Schritt auf sie zu und folgte ihrem Blick, der einer Wildkatze im Gras galt. Sie schlug die Fänge in eine Möwe, und Blut befleckte die weißen Flügel des Opfers, die gebrochen und halb ausgebreitet dalagen. »Starke Katzen gibt es hier – eine Möwe zu reißen, ist nicht ohne.«
»Stimmt«, sagte sie. »Alles hier ist etwas … wilder.«
»Die Geschöpfe der Natur lernen alle Verhältnisse zu meistern, in die sie geraten.«
»Das kommt auf die Verhältnisse an«, wandte Rika ein.
Sie schwiegen erneut, während Brynd neben ihr stand und hoffte, diese Nähe symbolisiere für sie, dass er in einem nicht nur körperlichen Sinne an ihrer Seite war. Er sah zu, wie es zu schneien begann. Der Wind frischte auf und ließ die Wandbehänge rascheln.
»Ich komme mit Euch«, sagte sie seufzend. »Aber gebt mir ein bisschen Zeit, um mich herzurichten.«
Ein Stück vom Schwarzen Frieter entfernt schleuderte Apium einen Kiesel ins Meer. Lange bevor der im Wasser landete, geriet er in der aufbrandenden Gischt der Granitküste außer Sicht.
»Immerhin reist sie freiwillig mit«, sagte Nelum und wollte seine Pfeife trotz des Sturms anzünden, was ihm jämmerlich missglückte. »Und wenn sie endlich angetrottet kommt, können wir an Bord gehen und sie nach Hause bringen. Und danach können wir für eine Weile die Füße hochlegen.«
Brynd warf Apium einen Seitenblick zu.
»Wir können die Füße doch für eine Weile hochlegen, oder nicht?«, fragte Nelum,
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