Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Klage. Vage Verfolgungsangst brachte Jeryd dazu, sich flüchtig zu fragen, ob dieses Summen bedeuten mochte, dass er demnächst sterben würde – als brächte ihn der Besuch bei den Banshees dem Grab näher.
Mayter Sidhe trat unvermittelt ein. Sie war als Banshee am Ort von Ghudas Ermordung gewesen, und ihr Klagen hatte Villjamur seinen Tod verkündet. Auch sie hatte schwarzes Haar und trug einen weißen Kittel. Überdies sah sie jung aus, hatte aber eine ebenso getriebene Miene wie die anderen Frauen hier. Auch in ihren blauen Augen lag eine seltsame Ferne, die er nie begriffen hatte. Wie den Übrigen war er auch ihr bereits begegnet, denn bei jedem Tod in der Stadt waren die Banshees als Erste zur Stelle.
Er erhob sich, als sie auftauchte.
»Guten Morgen, Ermittler Jeryd!«
»Morgen, Mayter!« Er setzte sich wieder.
»Es geht sicher um Ratsherr Ghuda?« Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Ihre unmittelbare Nähe und die damit verbundene Todesanmutung gingen ihm ein wenig auf die Nerven.
»Ja«, erwiderte Jeryd. »Reine Routine, doch dieser Mord hat einen hochrangigen Vertreter unserer Stadt getroffen. Das Opfer war – wie Ihr wisst – leitendes Mitglied im Rat.«
»Im Tod sind wir alle gleich, Herr Ermittler. Unsere Titel bleiben hier zurück.«
»Richtig. Doch da wir Übrigen noch am Leben sind, gibt es einiges zu tun, um besser zu verstehen, was vor dem Tod des Ratsherrn vorgegangen sein mag.«
»Wohl wahr.«
»Also«, fuhr Jeryd fort, »Ihr wusstet wahrscheinlich wie sonst auch, dass er ermordet werden würde.«
»Ja, aber erst als das Verbrechen geschah.«
Was immer das heißen mag … »Und da war es zu spät?«
»Wie immer. Wir sind keine Lebensretter.« Sie trommelte mit schlanken Fingern auf den Tisch. Einen Moment lang war Jeryd durch ihre prächtigen Ringe abgelenkt, in denen sich das trübe Licht des Zimmers brach.
»Das hat auch niemand behauptet. Ihr wart also … in der Gegend? Oder jedenfalls sehr schnell am Tatort?«
»Ja, ich war in der Nähe, um Gemüse einzukaufen. Dann hatte ich die Vision. Ihr wisst ja, was danach geschieht.«
»Gut«, sagte Jeryd, »und bis dahin habt Ihr nichts gesehen?«
»Nicht mehr als jeder andere.«
»Und danach?«
»Auch nicht mehr als diejenigen, die hinterher an den Tatort kamen. Ich war sehr rasch dort, habe aber nichts Seltsames bemerkt.«
Jeryd straffte sich. »Gut, dann erzählt mir bitte von Eurer Vision!«
»Es war wie stets – der gleiche Blick mit den Augen des Opfers im Moment der tödlichen Attacke. Außer … Na ja, ich hab nur einen Umriss gesehen, doch der war … anders als alles, was ich kenne. Ein wildes Wesen, würde ich sagen, das im Licht aufwärts zu verschwinden schien.«
»Weiter.« Das war die erste greifbare Aussage, die Jeryd bekam. Sofern einer Banshee zu trauen war.
»Das war’s – nur der Umriss eines Geschöpfs, das ich nie gesehen habe. Dann wusste ich, wo er zu finden war. Und ich hatte sofort das Gefühl, mich übergeben zu müssen, wusste also, dass er im nächsten Moment sterben würde.«
»Und sonst könnt Ihr mir nichts über dieses Geschöpf sagen?«
»Nein.«
»Wie hat es denn ausgesehen?«
»Ich weiß nicht.« Sie wirkte langsam ungeduldig. »Es war keinesfalls ein Mensch oder ein Rumel. Das ist alles.«
»Gut. Und es gab keine Blitze in Eurer Vision, die andeuten könnten, wer an seinem Tod interessiert war?«
»Nein. Die Stadtpolitik ist uns herzlich egal.«
Im Nachbarraum kratzte ein Stuhl über den Boden, und Jeryd sah aus dem Augenwinkel eine Banshee loshetzen. Als sie die Tür hinter sich zuwarf, flackerte eine Laterne.
Er wandte sich Mayter Sidhe erneut zu. »Geht Eures Wissens nach etwas Seltsames vor?«
»Nichts, was mit dem Verbrechen zu tun haben dürfte. Gerüchten zufolge sind einige Ratsmitglieder Ovinisten … «
Jeryd wusste, dass diese Gerüchte seit Jahren in Umlauf waren – mal mehr, mal weniger detailliert, je nachdem, wo man zechte. Politiker trafen sich angeblich in verdunkelten Zimmern, tranken dort Schweineblut, errieten aus den Herzen der Tiere Geheimnisse und badeten bei rituellen Schlachtungen in den Innereien. Selbst falls das stimmen sollte, war es möglicherweise harmlos. Wie viel Schaden konnte man mit einem toten Schwein anrichten?
»Tja«, sagte Jeryd, »ich habe keine Beweise für solche Praktiken gefunden, und es ist sehr schwer, das Gesetz auf jene anzuwenden, die sich über ihm glauben. Wir könnten sie alle zwecks innerer Umkehr in
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