Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
bedeutete ihm etwas, doch dass er seit Kurzem seine Unsterblichkeit verlor, hatte seine Lebensumstände völlig verändert – und er durfte sie nicht wissen lassen, dass sie ihm wichtig war. Nicht, wenn er sterben würde. Hätte er doch noch ein paar garantierte Jahre vor sich, etwas Zeit, um mehr über die Inseln unter der Roten Sonne herauszufinden, darüber, was alles bedeutete und woher diese Kultur stammte! Eine solche Geschichte hatte es immer zu entdecken gegeben – irgendwo . Wenn nur mehr Zeit wäre!
Wenn nur …
Da war es, das Uphiminn-Kyrr , ein sechseckiges Kistchen aus ihm fremdem Metall. Es gab keine bekannte Lagerstätte dieses Erzes, das wie Stahl schimmerte, dessen Eigenschaften und Struktur aber ganz anders waren. Gläserne Zifferblätter zeigten die Windrose eines Kompasses und verschiedene Bahnverläufe. Er drückte die Schachtel an die Brust und verließ das Zimmer.
Am frühen Abend stand er auf einer Brücke und sah blicklos in den Wind, wie neuerdings so oft. Warum verschwendete er das bisschen Lebenszeit, das ihm noch blieb, an solche existenziellen Krisen? Ein Lachen riss ihn aus seinem Grübeln. Niemand war auf der Brücke, die zwischen einem verfallenen Gebäude und einem stillgelegten Theater verlief. Mitunter wehte ein Windstoß ihm den rußfarbenen Umhang ins Gesicht und zwang ihm eine solche Dunkelheit auf, dass er sie für den Tod hielt.
Das Uphiminn-Kyrr diente dazu, den Himmel möglichst klar werden zu lassen. Neuerdings waren die Wolken mächtig, und es war nötig, sie zu zerstreuen, wenn er für lange Zeit in den Norden reisen wollte. Er legte das Gerät auf den Boden, rückte die Zeiger auf höchste Bahnkurve und schaltete es ein. Es gab eine Zeitschaltuhr, die er aus einem anderen Relikt ausgebaut hatte und von der er nicht wusste, wie wirksam sie war. Also behielt er das Gerät aus zwanzig Schritt Abstand im Auge, als erwartete er ein Feuerwerk. Die Geräusche der Stadt drangen zu ihm hoch; klirrende Flaschen, leises Lachen, hallendes Hufgetrappel aus engen Gassen – die Nächte klangen alle gleich.
Schließlich zischte es, das Uphiminn-Kyrr erglühte, und ein kleiner Ball aus weißem Licht stieg rasend schnell in den Himmel.
Er wusste nicht, wann er erführe, ob es geklappt hatte und ob die Wirkung überhaupt nützlich war, doch er musste tun, was er konnte.
KAPITEL 16
Jeryd betrachtete den prächtig gefärbten Nachthimmel. Marysa schmiegte sich enger an ihn. Sie zitterte ein wenig, und er wusste nicht, ob der Kälte oder des unheimlichen Ereignisses über ihren Köpfen wegen, doch das war auch nicht wichtig. Es zählte allein, dass sie ihn wieder umarmte wie in alten Zeiten. Während sich das Licht in ihren schwarz glänzenden Augen spiegelte, war er einfach nur dankbar, wieder mit ihr zusammen zu sein. Es hatte ihrer Abwesenheit bedurft, um ihn begreifen zu lassen, wie viel sie ihm bedeutete, und er war nahezu schockiert darüber, dass er als Rumel tatsächlich an Gefühlen litt , wie Menschen das normalerweise taten. Stets hatte er angenommen, die Rumel-Eigenschaft der Besonnenheit wäre es, die seine Gattung ein wenig über die menschlichen Verwandten erhöbe.
»Rumex«, flüsterte Marysa, »ist das nicht wundervoll? Wie kommt das zustande?«
Jeryd wusste es nicht, und da er nachdachte, war sein Schwanz reglos. »Vielleicht ist das ein Vorbote der Eiszeit, doch ich würde einige Drakar darauf wetten, dass es sich um einen Streich der Kultisten handelt.«
Beide waren von dem Anblick wie hypnotisiert, von den flackernden Strahlen, die vor dem Hintergrund der Sterne fortwährend Form und Farbe änderten. Die Leute ringsum waren ebenso entzückt und reckten den Hals, um zwischen den hohen Gebäuden mehr zu sehen. Sie traten auf Balkone hinaus oder eilten auf Brücken hinauf, als würden sie das seltsame Ereignis besser verstehen, wenn sie ihm etwas näher waren.
Jeryd hatte Marysa an diesem Abend auf ein paar Getränke und zu einem Golemtanz eingeladen, den Mitglieder des Ordens von Pugandr veranstalteten. Die zwergenhaften, lehmartigen Geschöpfe, die da auf der Bühne herumhüpften, hatten ihn ungemein begeistert.
Doch den ganzen zauberhaften Abend lang hatte er das Gefühl nicht abschütteln können, beobachtet zu werden – selbst dann nicht, als er in tiefes Nachdenken über die ungewöhnlichen Vorgänge am Himmel versunken war. In dieser Stadt sah man nachts leicht Schatten aus den Gassen hinter einem treten oder hörte Füße geisterhaft übers Pflaster
Weitere Kostenlose Bücher