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Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Titel: Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
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sollten Tausende vor den Toren umkommen. Das durfte nicht sein. Sie sollten anderswo sterben, fand Boll – mit Raffinesse und weit genug entfernt, damit der Gestank des Todes nicht über die glitzernden Türme und Brücken trieb, denn Villjamurs Bürger hatten Besseres verdient.
    Er betrat sein Zimmer, das mit goldenen Antiquitäten aus früheren Zeitaltern übersät war. Wie viele Bewohner der Stadt hatte er – ohne zu wissen, warum – eine Vorliebe für eine vergangene Epoche und wollte möglichst viel über die großen Schöpfungen der legendären Pithicus-Gattung erfahren, die im Krieg der Götter von den Dawnir ausgelöscht worden war. Daher waren seine Regale voller Texte über die Máthema-Kultur und die anschließende Kultur der Azimuth. Auch besaß er umfassende Kenntnisse über die Geschichte des Kaiserreichs Jamur. Sein Wissen über frühere Kulturen war seine große Stärke, und er bildete sich viel darauf ein. Immer wieder hielt er Leute an und ermunterte sie, ihm Fragen zur Geschichte zu stellen – na los, egal, was und aus welcher Epoche – , und dann brandeten seine Worte wie eine Flut über sie hinweg: eine vollkommen einseitige Unterhaltung, die eigentlich nur zum Ausdruck bringen sollte: Ich weiß mehr als du!
    Das Laternenlicht drang in tausend Winkel und Nischen des gewaltigen Zimmers. Boll stand am Fenster, kratzte sich den Bauch und sah zu, wie die Lampen in den anderen Häusern gelöscht wurden. Dann legte er sich aufs Bett und nahm ein Geschichtsbuch mit dem Titel Die mythischen Schlachten der Azimuth zur Hand. Er begann zu lesen, doch der Stil war so trocken und leblos, dass nicht ein Satz hängen blieb und er einnickte.
    Als Boll erwachte, war es dunkel. Alle Kerzen waren erloschen. Das Kreischen der Pterodetten gab ihm das Gefühl, seltsam schutzlos zu sein.
    »Muss der verdammte Wind gewesen sein«, sagte er sich ächzend und stieg aus dem Bett, um das aufgewehte Fenster zu schließen. Dann überlief ihn ein Frösteln, denn er spürte, dass er nicht allein war.
    Er sprang aufs Bett, griff ins Regal darüber und trat mit einem Kurzschwert auf den Fußboden zurück. Mit nackten Füßen auf den kalten Fliesen kreisend, hielt er die Waffe vor sich ausgestreckt. Das Blut rauschte ihm so laut in den Ohren, dass es jedes andere Geräusch zu übertönen schien.
    In einer Ecke erglühte etwas und nahm die Gestalt eines verwesten Leichnams mit leuchtenden Knochen an. In der klauenartigen Rechten hielt das Wesen eine schimmernde Axt.
    »Was … was willst du?«, stammelte Boll und schlang sich das Nachthemd mit der freien Hand fester um den Leib.
    Er bekam keine Antwort und bemerkte, dass das Geschöpf im Spiegel nicht zu sehen war. Er bebte vor Angst, als es näher kam, und sah durch die Lücken der glühenden Knochen. Das Wesen besaß kaum ein Gesicht: Wo Augen hätten sein sollen, gab es nur primitive Höhlen, und der Mund war ein schwarzer Kreis. »Ich habe Geld … «, flehte Boll.
    Als das unwirkliche Skelett sich vor ihm aufbaute, stieß er in einem schwachen Versuch der Selbstverteidigung mit dem Schwert nach ihm, doch das Wesen blieb einfach stehen, und die Klinge durchdrang es so widerstandslos wie Wasser.
    Die Axt in seiner Hand dagegen wirkte vollauf real. Als die Klinge niederfuhr, zuckte Boll zur Seite, doch sie traf ihn knirschend in die Schulter und bereitete ihm furchtbare Schmerzen. Aufheulend stürzte er der Länge nach zu Boden. Den rechten Arm konnte er nicht mehr bewegen, und um ihn herum bildete sich eine Blutlache. Der nächste Hieb schlitzte ihm den Unterleib auf und durchtrennte eine Arterie, ehe die Axt mit dumpfem Geräusch in die Bodenfliesen fuhr.

KAPITEL 20
    Ermittler Jeryd war alles andere als erfreut.
    Er starrte nur nachdenklich auf die Wand, trank dazu eine Tasse Tee und schwieg lange.
    Schließlich fragte er seufzend seinen Gehilfen: »Wieder ein Ratsherr?«
    »Ratsherr Boll«, bestätigte Tryst, der neben Jeryds Schreibtisch stand.
    »Ratsherr Boll«, wiederholte der Ermittler und fasste die Akten vor sich gedankenverloren ins Auge. »Mist!«
    »Soweit ich weiß, ist die Leiche schon bei Doktor Tarr, doch der hat sich den ganzen Vormittag über im Saal des Lebens aufgehalten.«
    »Warum das denn?«, brummte Jeryd. »So ein elender Schwachkopf!«
    »Er meditiert dort, glaube ich«, erwiderte Tryst.
    »Lass mich raten«, sinnierte Jeryd. »Auch dieser Tote weist seltsame Wunden auf, doch es gibt keine brauchbaren Hinweise oder Indizien. Also verschwenden alle

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