Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
die Dinge ruhig beim Namen.« Nachdem sie diesem Gedanken ein wenig nachgehangen hatte, sah sie ihn wieder an. »Ich habe mich so lange nach dir gesehnt!«
»Es ist mir ein Vergnügen, dir behilflich zu sein«, gab Lupus zurück. Sein Lächeln minderte ihre Anspannung. »Und nicht zu knapp in letzter Zeit.«
»Du bist in der Armee zum Prostituierten geworden, was? So viele einsame Soldaten, und alle fern der Heimat … «
»Es würde dir dort gefallen, lauter Männer … «
»Und wie!«, sagte sie.
»Du Perverse.«
»Du Volltrottel«, gab sie zurück.
Sie küssten sich.
Die Abenddämmerung kündigte sich an: Es wurde kälter, der Wind wechselte die Richtung, und die Natur ringsum roch intensiver. Wieder tauchte der Wolf auf, zu Lupus’ Freude. Er sprang auf, kaum dass er das Tier mit neugierigen Augen aus dem Ried hatte blicken sehen.
»He!«, rief er freundlich und ging, nur mit der Uniformhose bekleidet, auf den Wolf zu. Er hatte etwas von dem Fleisch dabei, das sie aus Villiren mitgebracht hatten, hockte sich nieder und hielt es dem Tier hin, das vorsichtig näher kam. Erst schnüffelte es nur daran und drehte den Kopf nach links und rechts. Dann riss es ihm mit raschem Biss das Fleisch aus der Hand und verschwand wieder im Ried.
Lupus lachte nur und kehrte zu Beami zurück.
»Ihr zwei seid euch recht ähnlich«, stellte sie fest.
»Wie meinst du das?«
»Kurz auftauchen, sich das Filet schnappen und wieder weg.«
»Das ist ungerecht. Ich muss zurück in die Kaserne zum Exerzieren und zu Strategiebesprechungen. Ich würde dich mitnehmen, wenn du willst. Du müsstest es nur sagen … Aber du bist verheiratet.«
»Das ist nicht so einfach«, seufzte Beami. »Er arbeitet so hart und bietet uns ein herrliches Haus und fantastisches Essen. Und eigentlich kann ich nicht behaupten, dass er mich nicht liebt. Er bekommt eben seine Wutanfälle, aber manchmal denke ich, dass er sich verändern wird und ich ihm dabei helfen kann. So war mein Leben, Lupus, ehe du wieder aufgetaucht bist. Du hast alles zerstört.«
Beami weinte an seiner Schulter. Das schien sie etwas zu erleichtern, sodass sie ihre Lage und ihre Ohnmacht nicht mehr als ganz so bedrängend empfand.
Später wurde es in der Anderswelt dunkel, und die wunderbar gelbe Sonne versank erstaunlich schnell.
Sie lagen den ganzen lauen Abend über zusammen im hohen Gras und blickten in den Himmel, während ein warmer Wind von der Küste wehte und die Bäume Düfte in die Nacht entließen – Aromen, die er nie gerochen hatte. Beami hatte den Kopf auf seiner Brust, und sein Bogen und Köcher lagen griffbereit rechts von Lupus. Eine Zeit lang beobachteten sie die Sterne, und sie hatte den Eindruck, hier gebe es nur den einen Mond, den größeren und helleren der beiden. Es schien zwar ein wenig ungewöhnlich, und doch …
»Wir sollten vielleicht heute Nacht hier schlafen«, schlug Beami vor. »Wenn bei unserer Rückkehr nach Villiren noch immer keine Sekunde vergangen ist, müssen wir frisch erscheinen, nicht müde, damit die Leute nicht argwöhnen, dass etwas zwischen uns ist.«
Kurz glaubte er, im Augenwinkel einen Kometen aufblitzen zu sehen.
»Die Sternbilder«, flüsterte er, »ähneln denen in Villiren, oder? Nur dass sie vielleicht etwas gegeneinander verschoben sind.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, erwiderte Beami. »Allein habe ich hier kaum einen Abend verbracht.«
Vielleicht war sein Interesse für Astronomie ein Soldatenfimmel, doch nachdem er die Sterne weiter beobachtet hatte, glaubte er sicher zu wissen, wo sie sich befanden. »Wir sind in Villiren. Der Ort ist der gleiche, nur der Zeitpunkt ist ein anderer.«
Beami schwieg kurz und sagte dann: »Das ergibt Sinn. Das Landschaftsrelief ist weitgehend gleich, und nah am Meer sind wir auch. Und es gibt steile Klippen, die einen Naturhafen schützen – wie in Villiren. Was meinst du, wie tief in der Vergangenheit wir sind?«
Sie ergingen sich weiter in solchen Spekulationen, bis Lupus allmählich einschlief, während Beami noch lange heiter die Sterne betrachtete.
Sie wusste nicht, wie lange sie in die Sterne gesehen hatte, als ein Teil des Himmels langsam seine Struktur änderte. Der Wind nahm etwas zu und ließ wieder nach, und eine massive, glasige Erscheinung schob sich vor ein Viertel des Sternenzelts und verdunkelte es. In einem riesigen, scharf konturierten Rechteck von der Größe einer kleinen Stadt wurden die Sterne unscharf, als vibrierten sie, und wurden dann ganz
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