Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
Konzert geben.
Die Höhlen der Glaux-Brüder befanden sich in einer Gruppe von Birken, die um eine Lichtung herum standen. Die Höhlen in den Baumstämmen waren verschieden groß. Sie dienten als Arbeitsräume oder Schlafkammern. Eine besonders geräumige Höhle beherbergte die Bibliothek. Die Wipfel der Birken hießen „der obere Kreis“. Hier flochten sich die Zweige ineinander und bildeten eine Art Bühne. Schneerose begann nun zu singen:
Wie ein Eisfeld im Mondschein,
Eine Blume in frostigen Höh’n,
Eine Schneeflocke im Winde,
Wie ein Stern, so hell und schön …
Auch dieses Lied erzählte von Liebe, Einsamkeit und verzehrender Sehnsucht. Siv kam es vor, als würden in ihrem Magen die hin und her schwingenden Splitter einer Eisharfe angeschlagen. Mir ist, als sänge Schneerose nur für mich! Woher weiß sie, wie mir zumute ist?
Doch Siv durfte sich nicht noch länger den Klängen von Schneeroses Gesang hingeben. Sie hatte die Brüder tuscheln hören, dass in der Nähe der Insel Dämonen gesichtet worden seien. Trauten sich die Dämonen wirklich, das Meer zu überqueren? Vermutlich, denn es war nicht die Art der Brüder, sich mit Gerüchten aufzuhalten. Siv musste ihren Sohn warnen!
Ygryk stellte missmutig fest, dass ihr graubraunes Gefieder wieder schwarz wurde. Auch die Federbüschel über ihren Augen sprossen in die Höhe. Die Wirkung des Verwandlungszaubers ließ nach.
Die Frühjahrsstürme hatten Pliek und Ygryk aufgehalten. Dreimal hatte der Sturm sie wieder auf die Insel des Dreizack-Archipels zurückgeworfen. Inzwischen war er abgeflaut, aber bis Ygryk einen neuen Zauber wirken konnte, musste sie mindestens drei Tage warten.
Mit Verwandlungszaubern musste man sparsam umgehen, sonst funktionierten sie nicht richtig. Dann würden ihr zwar Federohren wachsen, aber ihr Gefieder würde schwarz bleiben. Auch ihr Fyngrott würde darunter leiden.
Siv wartete ab, bis sich eine Wolkenbank vor den Mond geschoben hatte. Während Schneerose weiter sang, stahl sie sich unbemerkt davon. Doch die Wolkenbank löste sich rasch auf. Die Nacht war wieder sternenklar und windstill. Der Mond erneuerte sich gerade und war schmal wie eine Dunenfeder.
Eine herrliche Nacht, um sich mit seinem Sohn zu treffen , ging es Siv durch den Kopf. Sie berichtigte sich sofort: Nein – ich treffe mich nicht mit ihm. Ich möchte nur einen kurzen Blick auf ihn werfen. Mehr nicht.
Siv wollte auf dem kürzesten Weg ans andere Ende der Insel fliegen. Dort hatte sie bei ihrer Ankunft den Rauch aufsteigen sehen. Doch als sie eine Bucht an der südwestlichen Küste der Insel überquerte, hörte sie unter sich Wasser aufspritzen. Nanu! Die Glaux-Brüder haben doch nie von einem Fischuhu gesprochen, oder? Siv landete in der dichten Krone einer Fichte. Doch es war kein Fischuhu, sondern ein Sperlingskauz, der jetzt wieder aus dem Wasser schnellte.
„Er ist zu klein, Hoole!“, hörte sie jemanden rufen. Ein Uhu – aber wieder kein Fischuhu – flatterte von einer Erle auf. Eine kleinere Eule folgte ihm. Siv stockte der Magen. Die kleinere Eule war ein junger Kauz. Seine schneeweißen Flecken leuchteten wie unzählige winzige Monde.
„Das stimmt nicht, Theo!“, rief der junge Fleckenkauz empört. Er landete neben dem triefnassen Sperlingskauz, der jetzt auf einem Ast saß und sich kräftig schüttelte. „Du bist nicht zu klein fürs Fischen, Phineas! Du kannst alles erreichen, was du willst. Du musst einfach nur groß denken !“
Da wusste Siv, dass sie ihren Sohn gefunden hatte. Gränk hat ihn ,Hoole‘ genannt! Hoole kam ganz nach seinem Vater. Wie oft hatte H’rath vor einer Schlacht seinen Kriegern Mut zugesprochen: „Ja, wir sind in der Unterzahl und die Magie der Dämonen ist eine gefährliche Waffe. Aber wir kämpfen für das Gute! Wir kommen ohne faulen Zauber aus. Die Dämonen können uns nichts anhaben. Mit Mut und Disziplin werden wir sie besiegen.“
Siv blieb stundenlang auf der Fichte sitzen und beobachtete ihren Sohn.
Danach kehrte sie Nacht für Nacht in die Bucht zurück. Leider traf sie Hoole nie allein an. Immer waren entweder der Sperlingskauz Phineas oder der Uhu Theo bei ihm. Auch Gränk begleitete Hoole hin und wieder. Sivs Magen erbebte jedes Mal, wenn sie ihren Jugendfreund wiedersah. Gränk war alt geworden. Er kam ihr auch kleiner vor als früher. War er der Aufgabe überhaupt gewachsen, einen jungen Eulerich großzuziehen? Wie mag ich selbst aussehen? , dachte Siv im nächsten Moment. Ich werde
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