Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
Äußeres verändern konnten. Außerdem hätte Ygryk niemals geduldet, dass ein anderes Uhuweibchen ihren Pliek begleitete. Gränk hätte in den Flammen auch die Auftragsmörderin Ullrika erspäht. Flankiert von zwei breitschultrigen Bartkäuzen flog sie hinter Pliek und Ygryk her.
Hätte Gränk das alles gesehen, hätte er die Insel sofort verlassen. So aber hatte er nur ein ungutes Gefühl im Magen und machte sich Sorgen wegen seiner Sehergabe.
„Sieh an – Schneerose!“, rief Bruder Fritzel aus. „Das ist ja mal eine schöne Überraschung.“
Schneerose plusterte sich erfreut auf, sodass die Beerenranke um ihren Hals wippte. Sie empfangen mich wie eine Königin – wie Königin Siv höchstpersönlich.
„Vielen Dank“, sagte sie und verneigte sich.
„Du kommst genau richtig. Heute Abend ist das Schweigegebot aufgehoben. Wir würden uns glücklich schätzen, wenn du uns mit einem Lied beehrst. Und wen hast du da mitgebracht?“
„Das ist Elka.“
„Willkommen bei uns, Elka.“
Warum muss das Schweigegebot ausgerechnet heute aufgehoben sein! , dachte Siv. Ich will keine Fragen beantworten. Andererseits waren die Brüder sehr feinfühlig. Bestimmt wussten sie, dass Stromer es nicht schätzten, wenn man sie ausfragte. Vielleicht blieb es ja bei der Frage nach ihrem Namen. Siv ihrerseits hätte viele Fragen an die Brüder gehabt. Was hatte es mit dem Feuer am anderen Ende der Insel auf sich? Lebte dort vielleicht ein älterer Fleckenkauz, der einen jüngeren großzog?
Mein Sohn ist so nah – und doch so fern!
Die Brüder waren dabei, ihre Bibliothek einzurichten. Sie verbrachten unzählige Stunden in der sogenannten „Kalten Höhle“ und übertrugen die Texte von ihren Eisblöcken auf Tierhäute und Birkenrinde. Siv interessierte das sehr. Sie hätte zu gern einen Blick in die Höhle geworfen und in der neuen Bibliothek gestöbert. Aber damit hätte sie sich verraten. Stromer machten sich nichts aus Büchern. Kein Stromer konnte lesen.
Kurz nach Sivs und Schneeroses Ankunft fegte wieder ein Frühjahrssturm über die Insel. Bei den Glaux-Brüdern waren die beiden Besucherinnen sicher und behaglich untergebracht. Siv fehlte es an nichts. Nur schade, dass sie sich die Zeit nicht mit Lesen vertreiben konnte.
Inzwischen galt wieder das Schweigegebot, aber in den ersten beiden Tagen hatte Siv den Gesprächen der Brüder nützliche Hinweise entnommen. Es lebten noch drei weitere Eulen auf der Insel, die aber für sich blieben und nur dann und wann von einem gewissen Bruder Berwick besucht wurden: ein Uhu, ein älterer Fleckenkauz und ein jüngerer Fleckenkauz, der noch ein halbes Küken war. Bei dem Wort „Küken“ machte Sivs Magen einen Satz.
Siv wandte sich an einen alten Bartkauz. Er hieß Bruder Cedric. „Ist Bruder Berwick zufällig hier?“
„Er ist gerade auf Pilgerschaft. Wahrscheinlich ist er in den Süden geflogen.“
Anders als im Norden gab es im Süden noch kein Königreich. Pioniereulen durchstreiften die Wälder, Wüsten und Ebenen auf der Suche nach einem Ort, wo sie sich ansiedeln konnten. Im Süden gab es keine Gletscher und es fiel nur selten Schnee. Dafür waren die Winde unberechenbar und Orkane wühlten das Meer auf. Wer sich in den Süden aufmachte, bewies Mut. Allerdings erforderte es genauso viel Mut, sich im Norden niederzulassen, wo beständig Krieg herrschte und Dämonen ihr Unwesen trieben.
Das Meer im Süden fror niemals zu und bot somit Schutz vor Hägsdämonen. Andererseits gab es im Süden auch keine Eiswaffen. Für die Eulen aus dem Norden war ein Leben ohne Eis undenkbar. Ihre ganze Kultur beruhte darauf. In N’yrthgar kannte man Hunderte Worte für „Eis“. Es gab so viele Arten von Eis, wie es im Süden Blumenarten gab. Jede Eisart hatte bestimmte Eigenschaften. „Issen blu“ nannte man zum Beispiel das blaue Eis, aus dem die meisten Waffen hergestellt wurden. „Issen vintygg“ oder „Dunkeleis“ konnte man zu Spiegeln polieren. Nicht zu vergessen das „Issen bür“, in das die Glaux-Brüder ihre Texte geritzt hatten. Die meisten Bewohner von N’yrthgar konnten sich nicht vorstellen, in einem eisfreien Land zu leben.
„Wie mutig!“, rutschte es Siv heraus. Sie begriff sofort, dass sie sich damit verraten hatte. Eine echte Stromerin hätte so etwas nie gesagt. Stromer fühlten sich überall auf der Welt wohl.
Zum Glück kam in diesem Augenblick Schneerose angeflogen. Die Sängerin kündigte an, sie werde gleich im „oberen Kreis“ ein
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