Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
denen das Nest ausgepolstert war. Gränk und Theo hatten sich den weißen Flaum aus dem Brustgefieder gezupft. Merkwürdig , dachte Theo. Unsere Dunen sehen völlig gleich aus, obwohl wir nicht derselben Art angehören.
Die Augen des Kükens waren noch geschlossen. Sein Kopf wirkte im Vergleich zum Rest des Körpers viel zu groß. Der künftige König sah nicht anders aus als jedes frisch geschlüpfte Eulenkind. Gränk beugte sich über ihn. Unter der Haut sah man das kleine Herz heftig schlagen. Schlüpfen war anstrengend für so ein kleines Wesen.
„Willkommen auf der Welt, kleiner Hoole.“
Hatte das Küken den Kopf gedreht? Ein Lid klappte auf und ein großes dunkles Auge kam zum Vorschein. Es würde sich erst später goldbraun färben wie die Augen aller Fleckenkäuze.
„Willkommen, kleiner Hoole“, sagte auch Theo. Gränk hatte ihm eingeschärft, das Küken auf keinen Fall mit „Hoheit“ oder einem ähnlichen Titel anzusprechen. Sivs Sohn sollte noch nicht erfahren, dass er ein Prinz war. „Das ist einfach zu riskant“, hatte Gränk gesagt. „Außerdem soll er sich ruhig für ein ganz gewöhnliches Eulenkind halten. Dann wird er sich beim Lernen mehr Mühe geben.“
„Die Würmer! Wo sind die Würmer, Theo?“, fragte Gränk.
„Hier!“ Theo nahm einen Wurm in den Schnabel und ließ ihn vor dem Küken in der Luft baumeln.
„Lass mich das machen“, sagte Gränk. Er nahm Theo den Wurm ab und kauerte sich vor das Küken hin. Dann drehte er den Kopf so weit in den Nacken, wie es nur Eulen können. Der Wurm streifte den Schnabel des Kükens. Gränk lockte: „Guck mal – dein erster Wurm! Wir begehen heute deine Erster-Wurm -Feier. Glaux segne dich und schenke dir einen kräftigen Magen.“
Der kleine Eulerich machte den Schnabel auf. „Braver Junge!“, lobte ihn Gränk. Hoole schüttelte sich und hätte den Wurm beinahe fallen lassen. „Hoppla, mein Kleiner!“ Hoole bekam den Wurm wieder zu fassen und schluckte ihn mit dem Kopf voran herunter.
Gränk platzte fast vor Stolz. Sein Zögling hatte sogar gewusst, wie man einen Wurm richtig herum fraß! Dabei war es gar nicht so leicht zu erkennen, wo bei einem Wurm vorn und hinten war. „Er ist ein Naturtalent!“, sagte Gränk strahlend zu Theo.
Ein Naturtalent worin? Im Fressen? Aber Theo wollte seinem Lehrherrn nicht die Freude verderben. Dafür hatte er zu viel Hochachtung vor Gränk. Gränk war die erste Eule gewesen, die sich für Theo Zeit genommen und sich mit ihm beschäftigt hatte. Er hatte sein Wissen über Feuer an den jungen Uhu weitergegeben. Nur dadurch hatte Theo herausgefunden, wie man aus Steinen Metall gewann und wie man das Metall bearbeitete. Theo war der erste Schmied der Eulenheit. Seine Entdeckung würde den Lauf der Eulengeschichte ändern wie keine andere Entdeckung zuvor.
Eulenkinder wachsen unglaublich schnell. Auf die Erster-Wurm -Feier folgten im Nu die Erstes-Insekt -Feier und die Erstes-Fleisch -Feier. Den Eulen bedeuten diese Feiern sehr viel. An ihnen messen sie das Heranwachsen ihrer Nestlinge und das Verstreichen der Zeit.
Der kleine Hoole war unersättlich. Gränk und Theo mussten sich mit der Futterbeschaffung abwechseln. Gränk hätte nicht gewusst, wie er ohne Theo zurechtgekommen wäre. Der junge Uhu fand kaum noch Zeit, in seiner Schmiede zu experimentieren. Auch jetzt musste Gränk ihn wieder rufen.
„Theo!“
„Ja?“
„Kannst du noch eine Feldmaus besorgen?“
Das war schon die dritte Maus an diesem Abend und der Mond war noch nicht einmal ganz aufgegangen. Wie kann bloß dermaßen viel in so einen kleinen Bauch hineinpassen? , dachte Theo.
„Soll ich nicht lieber eine Wühlmaus fangen?“, schlug er vor. „Da ist mehr Fleisch dran.“
„Wühlmaus! Ich will eine Wühlmaus!“, piepste Hoole. Er hatte noch keine richtigen Federn, sondern glich einer weißen Flaumkugel. Er hüpfte auf den Ast vor der Höhle und rief zu Theo hinunter: „Bitte jag mir eine Wühlmaus, Theo!“
„Ich versuch’s.“
„Komm wieder rein“, sagte Gränk. „Du fällst mir sonst vom Ast. Schließlich hast du noch keine Flugfedern.“
„Wann kriege ich denn Flugfedern, Onkel Gränk?“
„Nach deiner allerersten Mauser. Wenn deine Dunen ausfallen und sich die Federschäfte nach oben schieben.“
„Und wann ist das?“
„Noch nicht. Du wirst schon merken, wenn es so weit ist.“
„Bitte schau doch mal nach, Onkel Gränk. Vielleicht hab ich ja nur nichts gemerkt.“
„Na schön. Sag Theo auf
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