Die Legende der Wächter 2: Die Wanderschaft

Soren?“
    „Das wüsste ich auch gern. Ä h … wie meinst du das denn?“
    „Das weiß ich selbst nicht so genau. Es kommt mir nur vor, als wäre unsereiner so leicht zu beschreiben. Es gibt vieles, was uns von anderen Vögeln unterscheidet, aber sind es wirklich diese Eigenschaften, die eine Eule ausmachen? Klar, wir können unseren Kopf fast ganz herumdrehen, wir sehen nachts besser als alle anderen Vögel, wir fliegen nahezu lautlo s … aber ist es nur das, was uns zu den Eulen macht, die wir sind?“
    „Warum fragst du mich das, Digger? Auf solche Fragen gibt es keine Antworten.“
    „Vielleicht stelle ich sie ja gerade deshal b … weil man sie nicht beantworten kann. Das ist doch spannend. Es bedeutet, dass wir vielleicht noch Überraschungen erleben werden, dass wir plötzlich neue Seiten an uns entdecken. Ich jedenfalls bestehe nicht nur aus schwachen Flügeln und kräftigen Beinen. Und auch du, Soren, bist nicht nur ein Eulenmännchen mit einem schönen weißen Gesicht, einem ungewöhnlich feinen Gehör und ulkigen schwarzen Augen. An dir und mir ist mehr dran.“
    Digger war ein seltsamer Kauz, das bestätigte sich in dieser Unterhaltung wieder einmal. Soren spähte nach draußen, wo das Morgenlicht schon der Mittagssonne wich. Wenn Digger Recht hatt e … wenn sie erst noch herausfinden mussten, was ihr eigentliches Wesen ausmachte, was bedeutete das dann in seinem, Sorens, Fall? Der Schleiereulenjunge betrachtete seine drei friedlich schlafenden Freunde. Den großen, kräftigen Morgengrau, Gylfie, die nicht viel länger war als eine von Morgengraus Zehen, und Digger mit seinen sehnigen federlosen Beinen, dem Stummelschwanz und dem merkwürdig abgeflachten Kopf.
    Soren musste daran denken, dass Gylfie und er sich das Leben hier im Baum früher einfach als das erfreuliche Gegenteil zu der trostlosen Gefangenschaft im Sankt Äggie vorgestellt hatten. Aber das Leben im Großen Ga’Hoole-Baum war viel mehr als das. Vielleicht steckte in ihm selbst ja auch mehr, als er gedacht hatte? Durch die Wandöffnung fiel schon helles Nachmittagslicht, als Soren endlich einschlief.

Stimmen aus den Wurzeln

    „ Pss t … psst! “, zischelte jemand Soren ins Ohr.
    „Wieso bist du um diese Tageszeit wach, Gylfie? Es ist Mittag! Bist du gaga?“
    „Gar nicht!“ Im Zwielicht erkannte Soren, dass seine Freundin aufgeregt von einem Fuß auf den anderen hüpfte. „Gerade findet im Parlamentssaal eine äußerst wichtige Versammlung statt!“
    „Ja und?“
    „Ich glaube, es geht um den Streifenkauz un d …“, Gylfie schluckte schwer und kniff die Augen zusammen, „ … und u m …“, die Elfenkäuzin war selten um Worte verlegen, „ … und um sein ,schön wär’s‘.“
    Soren war schlagartig hellwach. „Du machst wohl Witze.“
    „Über so etwas würde ich nie Witze machen, Soren, das weißt du auch.“
    „Warst du denn selber auf der Versammlung oder woher willst du das wissen?“
    Gylfie blinzelte und schaute verlegen auf ihre kleinen Krallen. „Ich weiß ja, dass man nicht lauschen soll, aber ich konnte nicht schlafen. Mr s Cook sagt doch immer, wenn wir nicht schlafen können, sollen wir zu ihr in die Küche kommen und sie macht uns einen Tee. Ich bin runtergegangen und auf dem Rückweg wollte ich zur Abwechslung einmal anders laufen. Ich bin in einen der Gänge durch die Mitte des Baumstamms abgebogen, einen von den ganz engen, geschlängelten, und dann führte der Gang auf einmal abwärts statt nach oben zu den Schlafhöhlen. An einer Stelle ist das Holz der Wände wohl ein bisschen morsch, jedenfalls hörte ich plötzlich Stimmen, und dann habe ich einen Spalt entdeckt, der gerade groß genug für einen Elfenkauz ist.“
    „Es gibt nicht zufällig auch einen Spalt, in den eine Schleiereule reinpasst?“
    „Kann schon sein. Da war auch noch ein anderer Spalt in meiner Größe, aber der war zu hoch oben.“
    „Da kann ich dir behilflich sein!“ Morgengrau war aufgewacht. „Wir beide tun uns zusammen. Ich nehm dich auf die Schultern. Die Elfenkäuzin und der Riese: ein unschlagbares Team!“
    „Also ehrlich, Morgengrau!“, sagte Soren.
    „Was denn? Stimmt doch.“
    „Ich bin vielleicht kein Riese wie du, aber ich habe von uns allen das beste Gehör. Ich komme natürlich auch mit.“
    „Ich auch.“ Digger klang zwar noch etwas verschlafen, aber er streckte schon die Beine.
    „Hast du überhaupt mitgekriegt, worum es geht?“, fragte Gylfie.
    „Nö, aber wir vier gehören doch zusammen.