Die Legende der Wächter 3: Die Rettung
war, klaffte nun ein Loch. Soren flog hoch und schwirrte vor der Öffnung auf der Stelle, was ziemlich anstrengend war. Kolibri müsste man sein, dachte er. „Komm doch mal her, Gylfie. Du bist kleiner als ich. Streck bitte den Kopf in das Loch, da ist irgendwas drin.“ Er machte der Elfenkäuzin Platz.
Gylfie flog einen Augenblick lang vor der Öffnung auf der Stelle, dann steckte sie blitzschnell den Schnabel hinein und brachte eine lange Schnur zum Vorschein.
„Zieh mal“, sagte Soren.
Gylfie versetzte der Schnur einen Ruck. „Mach du, ich hab nicht genug Kraft.“
Soren übernahm die Schnur und zog kräftig daran. Man hörte es knarren, dann öffnete sich in der Wand eine Tür, die ihnen vorher nicht aufgefallen war.
Die beiden Eulen wechselten einen Blick, sie brauchten sich nicht erst abzusprechen. Soren flog voran. Es war dunkel, aber das störte ihn als Eule ja nicht. Im Dunkeln sah er sogar besser als im Hellen. Die beiden Freunde flogen einen Gang entlang, der so eng war, dass sogar die Elfenkäuzin Mühe hatte, mit den Flügeln zu schlagen. Doch bald wurde der Gang breiter und mündete in einen Raum, der ungefähr so groß war wie Ezylrybs Schlafgemach.
Eine Geheimkammer, dachte Soren. Dann rissen beide Eulen staunend die Augen auf.
„Siehst du, was ich sehe, Soren?“
„Ich bin ja nicht blind!“
An der Wand hing ein Paar uralter, rostiger Kampfkrallen. Das Geheimnis der Geheimkammer!, ging es Soren durch den Kopf.
Er musste an seine Unterhaltung mit der Schmiedin von Silberschleier denken. „Ezylryb hat eine Vergangenheit“, hatte die schwarze Schnee-Eule gesagt. „Er ist eine Legende. Er hat Feinde.“
Soren hatte seinen Ohren nicht getraut. Ezylryb war die friedfertigste Eule der Welt. Er verabscheute Gewalt und Waffen.
„Sieh dir die Dinger an, beim Glaux!“, rief Gylfie, die näher herangeflogen war. „Schon vom Anschauen wird mir flau im Magen. Das sind tödliche Waffen, Soren, die Schneiden sind sogar noch gezackt. Komm hoch und schau es dir selbst an.“
„Nein!“ Soren ertrug den Gedanken nicht, dass sein verehrter Lehre r – sein Hel d – mit diesen Waffen andere Eulen getötet hatte.
Mit dem Töten hatte Soren schon seine Erfahrungen gemacht. In den Schnabelbergen hatten er und seine Gefährten einen Luchs getötet und sie hatten zusammen auch Jatt und Jutt, den Unterleutnants aus Sankt Ägolius, den Garaus gemacht. Die beiden Waldohreulen hatten die vier Freunde in der Wüste Kuneer überfallen. Wer solche Kampfkrallen trug, tötete von Berufs wegen. Wie nannte man diese Eulen doch gleich? Ach richtig, Söldner. Sie verdingten sich bei anderen Eulen und töteten in deren Auftrag. Nur Söldner besaßen ihre eigenen Kampfkrallen. Im Großen Ga’Hoole-Baum lagerten alle Waffen in der Rüstkammer. Die Gemeinschaft kannte nur wenige Vorschriften, aber es war strengstens verboten, Waffen in der eigenen Höhle aufzubewahren.
Sorens Neugier siegte über seinen Abscheu. Er flatterte an der Wand hoch.
„Die Krallen haben schon ordentlich Rost angesetzt“, sagte Gylfie und schaute verunsichert zu ihrem Freund hinüber. Sie wusste, wie glühend Soren den alten Kreischeulerich verehrte. Die Entdeckung der Kampfkrallen machte ihm bestimmt sehr zu schaffen. Söldner galten als verachtenswerte Außenseiter.
„Ich glaube nicht, dass Ezylryb die Krallen oft benutzt“, fuhr Gylfie fort. „Sie rosten hier bestimmt schon ewig vor sich hin.“
„Kann schon sein“, erwiderte Soren lahm. Er betrachtete die Kampfkrallen genauer. Sie waren genauso gebogen wie echte Eulenkrallen. Bestimmt saßen sie wie angegosse n …
„Ich weiß was, Gylfie!“, rief er aus. „Die Krallen stammen aus der Werkstatt der Schmiedin von Silberschleier!“
„Falsch geraten.“
Die beiden Jungeulen fuhren herum. Oktavia kam in die Kammer geglitten.
„Nicht die Schmiedin von Silberschleier hat diese Krallen hergestellt, sondern ihr Lehrmeister, der Schmied von der Schwarzhuhninsel. Diese Kampfkrallen sind eine Sonderanfertigung für Lyze von Kjell, den Dichter, Chronisten und Krieger.“
„Lyze von Kjel l …“, wiederholte Soren flüsternd. Vor seinem inneren Auge sah er den Namen geschrieben und jetzt verschoben sich die Buchstaben. Sein Magen zog sich vor Entsetzen zusammen.
Die alte Schlange schien zu spüren, wie es ihm erging. „Du hast es begriffen, Soren, nicht wahr?“
„Hä?“, machte Gylfie.
„Stell dir den Namen ,Lyze‘ geschrieben vor, Gylfie. Wenn du ihn rückwärts
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