Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
verstärken. Nyra wollte es ihm nachtun. Sie hatte Pläne – große Pläne.
Hier im Silberschleier-Wald wollte sie ihr erstes Ziel erreichen. Irgendwann würde sich herumsprechen, dass sie keineswegs tot, sondern gesund und munter war. Spätestens wenn der Mord bekannt wurde, den sie plante. Im Heranfliegen hörte sie schon die klirrenden Hammerschläge ihres Opfers.
Sie hatte es auf die Schmiedin von Silberschleier abgesehen, diese sture Eule. Seinerzeit hatte diese sich geweigert, Kampfkrallen für Kludd zu schmieden. Sie hatte den Tod verdient! Danach würde Nyra in die Rolle der Schmiedin schlüpfen. Sie würde sich zwar nicht direkt als die Schmiedin von Silberschleier ausgeben, aber sie würde sich als irgendeine Freie Schmiedin tarnen. Sie würde sich mit der Asche aus der Schmiede-Esse einschmieren, um die Narbe in ihrem Gesicht unter einer Rußschicht zu verstecken. Dann würde sie sich das Werkzeug und den Glutbehälter der Schmiedin schnappen und in die Hinterlande weiterfliegen.
Sie hatte für diesen Ausflug eine richtige Einkaufsliste erstellt: drei Freie Schmiede, vier Freie Glutsammler, ein Regiment Söldner und – auf diesen Einfall war sie besonders stolz – Wölfe! Und zwar Urzeitwölfe, die größten, wildesten Wölfe der Welt.
Auf die Idee mit den Wölfen war Nyra mitten am Tag gekommen, als ihr wieder einmal der Zorn über Nyrocs Verrat den Schlaf raubte. Was sprach dagegen, eine weitere Tierart am Eroberungsfeldzug der Reinen zu beteiligen? Hatten die Nordland-Eulen nicht seinerzeit im Krieg der Eisklauen ihr Heer mit Kjellschlangen und sogar mit Eisbären aufgestockt? Nyra rechnete damit, dass ihr Kriegszug noch lange nicht zu Ende war. Sie hatte schon gegen die Sankt-Ägolius-Eulen gekämpft und gegen die verfluchten Wächter von Ga’Hoole. Gegen die Wächter hatte sie eine vernichtende Niederlage einstecken müssen. Deshalb musste sie sich etwas Neues einfallen lassen. Urzeitwölfe waren Langstreckenläufer und dabei schneller als jede Eule. Schwimmen konnten sie auch und sie töteten kaltblütig. Außerdem lebten sie nach strengen Regeln. Innerhalb der Clans herrschte eine feste Rangordnung, die auch von Gästen eingehalten werden musste. Nyra wollte den Clan zum Schein um Zuflucht bitten. Die Wölfe gewährten jedem Lebewesen ihren Schutz, ganz gleich, ob es sich um einen Glauxgesegneten oder um einen Ausgestoßenen handelte. Nyra würde ihnen Geschenke mitbringen: eins für den Clanführer, so wurde das Oberhaupt genannt, eins für seine Frau und kleinere Gaben für seine Vertrauten, die sogenannten Edlen Canes Lupus, was immer das heißen mochte. Die Geschenke würde Nyra bei Krämer-Ellie eintauschen. Als Freie Schmiedin getarnt, würde sie der Elster haufenweise Krimskrams anbieten. Nyra hatte gehört, dass die Schmiedin von Silberschleier keine Waffen mehr fertigte, sondern „Kunst“. Krämer-Ellie liebte solches Zeug.
Aber schön der Reihe nach: Vor den Geschenken kam erst mal der Mord.
Nyra näherte sich der Schmiede. Das Knistern des Feuers und die Hammerschläge übertönten ihre Fluggeräusche. Die Schmiedin von Silberschleier hatte sich in einer Burgruine der Anderen niedergelassen. Ihre Werkstatt hatte sie in einem ehemaligen Garten errichtet. Die Gartenmauer war teilweise eingestürzt und die Schmiedin hatte aus den heruntergefallenen Ziegeln ihre Schmiede-Esse gebaut. Als Wohnung diente ihr das alte Kellergewölbe der Burg. Dort lagerte sie auch ihre Waren.
Jeder wusste, dass man einen Schmied nicht bei der Arbeit stören sollte. Denn das konnte für beide Seiten gefährlich werden. Nyra aber hatte genau das vor – und gefährlich würde es nur für eine von ihnen beiden werden, nämlich für die Schmiedin! Nyra hatte Kampfkrallen angelegt. Die scharfen Klingen hatten dem verstorbenen Kludd gehört und waren ihr größter Schatz. Vorsichtshalber hatte sie noch einen dicken Ast dabei. Nyra flog einmal über die Schmiede. Sie würde im klassischen, kreisenden Flug angreifen, nur dass ihr Opfer diesmal beträchtlich größer war als eine Maus. Nyra ging in den Sinkflug. Ihr Herz klopfte, doch ihr Magen war fest entschlossen.
Als sie gerade mit dem Ast zuschlagen wollte, fuhr die Schmiedin herum. Sie hielt die lange Schmiedezange in den Zehen und schien nicht im Mindesten überrumpelt. Geschickt wich sie Nyras Hieb aus und schwang sich in die Lüfte. In der Zange klemmte ein Gegenstand, vermutlich irgendein Kunstwerk. Was konnte die Schmiedin damit schon gegen
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